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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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sprachen über Dinge, dann redeten wir nicht mehr, sondern hielten nur lange und still genug unsere Hände, bis die Tiere und die Abflora vergaßen, dass wir lebendig waren, und uns als Teil der Landschaft behandelten.
    Zwei Kreaturen, die jeweils die Größe meines Unterarms besaßen, kämpften im Gras. »Schau«, sagte ich leise. »Schsch.« Etwas von den Tieren entfernt schlich sich gerade ein Zweifüßer davon, dessen Hinterteil zerfranst und blutig aussah.
    »Es ist verletzt«, sagte Scile.
    »Nicht direkt.« Wie jedes Kind aus Botschaftsstadt wusste ich, was das war. »Schau«, sagte ich, »das ist der Jäger.« Ein wilder kleiner Altbrock, sein schwarz-weißes Fell war befleckt. »Das Tier, gegen das er kämpft, wird Trunc genannt. So wie das Wesen, das wegläuft. Ich weiß, sie sehen wie unterschiedliche Tiere aus. Du siehst, dass das Hinterteil von dem da drüben ganz zerfetzt ist? Und der Vorderteil desjenigen, das an den Altbrock geraten ist, ebenfalls? Das eine ist die Gehirnhälfte und das andere die Fleischhälfte von ein und demselben Tier. Sie reißen sich auseinander, wenn der Trunc angegriffen wird: Die Fleischhälfte hält jedes Raubtier fern, während das Gehirnende davonrennt, um nach einer letzten Gelegenheit zur Paarung Ausschau zu halten.«
    »Es ähnelt keinem anderen einheimischen Zeug«, meinte Scile.»Doch … ich glaube nicht, dass es von Terre stammt.« Die Fleischhälfte des Trunc war dabei, den Kampf zu gewinnen, und zermahlte den Altbrock am Boden. »Bevor er sich auseinanderriss, müsste er acht Beine gehabt haben. Es gab keine Oktopoden auf Terre, nicht wahr? Vielleicht unter Wasser, doch …«
    »Er stammt weder von Terre noch von Arieka«, unterbrach ich ihn. »Vor Kilostunden wurde er durch einen Zufall hier eingeführt, und zwar mit einem Schiff der Kedis. Sie sind kleine Zigeuner. Sie müssen gut riechen oder so was: Eine ganze Menge anderer Wesen greifen sie an. Aber selbst wenn die Raubtiere gewinnen, bringt das Essen von Trunc-Fleisch sie zum Erbrechen oder tötet sie. Arme kleine Flüchtlinge.«
    Die Gehirnhälfte des Autotruncators verharrte im Schatten von vor langer Zeit zerfallenem Mauerwerk und Leitungen. Das Wesen beobachtete den Triumph seiner einstigen Hintergliedmaßen. Es wippte wie ein Erdmännchen oder ein kleiner Dinosaurier. Die Gehirnhälfte hatte die einzigen Augen des Truncs mitgenommen, und die Fleischhälfte kreiste in blinder Kampfeslust und schnüffelte dabei nach weiteren Feinden, um sein geflohenes Gemüt vor ihnen zu schützen.
    In einem Akt obskurer Rührseligkeit griff Scile nach der Fleischhälfte des Truncs, wich ihren Klauen aus – was keine geringe Leistung war angesichts der Tatsache, dass das Kämpfen alles war, wozu das Geschöpf von den übrig gebliebenen, am Hals endenden Gedanken angetrieben wurde – und nahm sie mit nach Hause. Mehrere Tage lang hielt er sie am Leben. In dem Käfig, den er zurechtbastelte, legte er Futter hin. Der Trunc umkreiste es und schnappte sich Bissen davon, während er seine endlosen wachsamen Runden weiterdrehte, obwohl er kein Gehirn bei sich hatte, das er beschützen konnte. Er versuchte, sich gegen alle Bürsten und Kleidungsstücke zu wehren, die wir in seiner Nähe baumeln ließen. Er starb und zerfiel sehr schnell, wie eine mit Salz überschüttete Nacktschnecke, sodass er uns nur eine Schweinerei hinterließ, die wir zu beseitigen hatten.
    An der Münzwand erzählte ich Scile von der ersten Begegnung mit Bren. Ich hatte mich dabei ertappt, wie ich zögerte, Scile dorthinzu führen oder ihm die Geschichte zu erzählen. Und darüber war ich verschnupft, sodass ich mich schließlich dazu zwang. Scile schaute sich ausführlich das Haus an.
    »Ist er immer noch da?«, erkundigte ich mich bei einem Budenbesitzer vor Ort.
    »Ich sehe ihn nicht allzu oft, aber er ist immer noch da.« Der Mann machte ein Fingerzeichen, das gegen Unglück schützen sollte.
    Auf diese Weise führte ich Scile durch meine Kindheit. Eines späten Morgens sah ich am Ende des Platzes, wo wir draußen saßen und frühstückten, eine kleine Gruppe von jungen auszubildenden Botschaftern auf einer ihrer kontrollierten, abgeschirmten und geschützten Expeditionen durch die Stadt, für die sie eines Tages vermitteln würden. Ich wies Scile auf sie hin. Es gab fünf oder sechs von ihnen, und es sah so aus, als wären alle von derselben Charge – zehn oder zwölf Kinder, die ein paar Kilostunden von der Pubertät entfernt waren und die von

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