Stadt der Lügen
kennen gelernt, aber nach dem, was sie so erzählt, scheinen sie ganz nett zu sein.«
Toms Gedanken wirbelten nur so in seinem Kopf herum. Dabei bemühte er sich, so auszusehen, als ob nichts Besonderes in ihm vorginge. Amandas Geschichten über ihre Geburt in Deutschland, den Tod ihres Vaters, als sie sechs war, und die zweite Ehe ihrer Mutter stimmten ganz offensichtlich nicht mit den vermutlich genaueren Informationen von Hank überein.
»Jedenfalls hast du Recht, Hank«, sagte er schließlich nur. »Diese Amanda ist ein nettes Mädchen. Wirklich nett.«
Rosalie Higgins hatte immer schon Probleme damit gehabt, dass die Zufahrt zu ihrem Haus genau in einer Kurve lag. Bereits an dem Tag vor nunmehr dreißig Jahren, als sie und Don das Haus zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, wusste sie, dass da etwas im Argen lag. Durch die hohe Mauer war die Aussicht sowohl nach rechts als auch nach links eingeschränkt, zumal die Straße ausgerechnet an dieser Stelle eine unübersichtliche Biegung aufwies. Doch dieses Problem konnte gelöst werden; ansonsten war das Haus perfekt – genau das, wonach sie gesucht hatten.
Einige Wochen lang hatten sie die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten diskutiert – entweder die Höhe der Mauer zu verringern, oder, vorausgesetzt, sie bekamen die entsprechende Genehmigung, eine neue Zufahrt an einer übersichtlicheren Stelle des Grundstücks bauen zu lassen. Doch dann traten unvorhergesehene Probleme mit dem Dach auf, und bis diese beseitigt und bezahlt waren, hatten sie sich an ihre Zufahrt gewöhnt. Man musste einfach nur ein bisschen besser aufpassen und Leute, die zum ersten Mal zu Besuch kamen, vorwarnen.
Trotzdem fühlte sich Rosalie nie ganz wohl, wenn sie den Wagen aus der Garage fuhr. Meistens ließ sie ihn bis zum Tor rollen, bremste dann und tastete sich Stück für Stück vor, bis sie sehen konnte, ob die Straße frei war. In den gesamten dreißig Jahren hatte es keinen einzigen Zwischenfall gegeben. Doch tief in ihrem Innern wusste Rosalie genau, dass eines Tages ein Unglück geschehen musste, und verspürte eher Erleichterung als Erschrecken, als es tatsächlich passierte.
Der junge Mann, der in ihren Wagen krachte, hätte nicht charmanter sein können. Er erkannte sofort seine vollständige Schuld an, und Rosalie verspürte keinerlei Vorbehalt, ihn ins Haus zu bitten, um die Versicherungsfragen zu klären.
Tom betrachtete die gepflegten Häuser mit ihren sauberen Rasenflächen auf der anderen Straßenseite. In einem der Gärten spielten Kinder. Amandas Mutter kam mit den Papieren zurück ins Wohnzimmer. »Ich mache Ihnen einen Kaffee, Mr Shaughnessy. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«
Tom nahm ein wenig Sahne in seinen Kaffeebecher und ließ seinen Blick scheinbar desinteressiert über die gerahmten Familienfotos auf dem Schrank gleiten. Tatsächlich waren die Bilder von Amanda, angefangen von frühester Kindheit bis etwa zum Alter von achtzehn Jahren, sofort beim Hereinkommen aufgefallen. Er trat einen Schritt näher.
»Eine hübsche Familie, Mrs Higgins. Das sind wahrscheinlich Ihr Ehemann und Ihre Tochter, nicht wahr?«
»Don und Mandy«, verkündete Mrs Higgins mit unverkennbarem Stolz.
»Mandy?«, wiederholte Tom. »Ein sehr hübscher Name.« Den Fotos nach zu urteilen, musste sie ein Einzelkind sein.
»Eigentlich heißt sie Amanda, aber wir nennen sie immer noch Mandy.«
»Sie ist wunderschön«, sagte er. »Darf ich?«
Er streckte die Hand aus, um eines der Fotos zu nehmen, wartete aber auf ihre Erlaubnis. Schließlich hielt er das Bild ins Licht und betrachtete den lächelnden Teenager im Tanzstunden-Abschlussball-Kleid.
»Meine Schwester behauptet immer, Mädchen in diesem Alter wären heutzutage ziemlich schwierig«, sagte er. »Stimmt das?«
»Oh, Mandy ist längst kein Teenager mehr.« Mrs Higgins lachte leise und kam zu Tom ans Fenster. »Sie ist inzwischen erwachsen.«
Tom spielte einen Moment mit dem Gedanken an die Masche, sie sähe viel zu jung aus für eine erwachsene Tochter, entschied sich aber dagegen.
»Wie schnell doch die Zeit vergeht«, stellte er stattdessen kopfschüttelnd fest. »Plötzlich sind sie erwachsen, ziehen fort, heiraten und haben selbst Kinder.«
»Mandy ist nicht verheiratet«, erklärte Mrs Higgins lächelnd und stellte das Foto ordentlich in die Reihe zurück. »Noch nicht. Sie arbeitet für eine internationale Anwaltskanzlei und reist sehr viel. Sie hat zu wenig Zeit, über die Gründung einer eigenen
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