Stadt der Masken strava1
erklären, wie ich hierher gekommen bin, aber ich komme aus einem anderen Land. Aus London. In England. Wenn ich dort bin, bin ich sehr krank. Um genau zu sein, könnte ich sogar sterben. Ich habe Krebs und ich bekomme Chemotherapie. Meine Haare sind mir ausgefallen. Ich bin ständig müde.
Ich war eingeschlafen, während ich über eine Stadt nachdachte, die auf dem Wasser schwimmt, und als ich aufgewacht bin, war ich dort, wo du mich gefunden hast, und ich hab plötzlich wieder Haare gehabt.«
Arianna streckte die Hand aus und zupfte an seinen Locken. Sie spürte den Widerstand, zog kurz die Luft ein und machte ein Zeichen mit der Hand, indem sie den Daumen an den kleinen Finger legte und Stirn und Brust berührte.
»Dia«, flüsterte sie. »Es ist wahr. Ich verstehe zwar nicht alles, was du mir erzählt hast, aber ich glaube dir. Du kommst aus einer Stadt, die weit weg von hier liegt. Dort bist du erkrankt, an was auch immer. Und jetzt bist du auf einmal hier und gesund. Was bedeutet das?«
Sie starrten sich an. Dann sah sich Arianna unsicher in dem Lokal um. Der Mann an der Theke schien ziemlich interessiert in ihre Richtung zu sehen. »Hier sind zu viele Leute. Jemand könnte mich erkennen. Lass uns verschwinden.«
»Warum tragen alle Frauen Masken?«, fragte Lucien. »Ist das wieder für ein Fest?«
»Nicht alle tragen welche«, sagte Arianna. »Nur die Unverheirateten. Ich muss auch eine tragen, sobald ich sechzehn bin, in ein paar Monaten. Noch so eine Regel der Duchessa. Allerdings nicht von der jetzigen. Das geht schon seit vielen Jahren so. Sie selbst muss auch eine tragen.«
»Sie ist also nicht verheiratet?«, fragte Lucien, aber Arianna schnaubte nur ver
ächtlich als Antwort.
Sie führte ihn fort von dem Platz zu einem ruhigen Wasserarm der Stadt. Die Häuser waren rosa und sandfarben und ocker getüncht und auf manchen der Innenhöfe oder der Dachterrassen wucherten kleine Gärten. Der Himmel war leuchtend blau und zwischen den Häusern entdeckte Lucien bisweilen weitere Glockentürme, die von Vögeln umkreist wurden. Kleine Kanäle kreuzten so oft ihren Weg, dass sie im Zickzack gehen und die Brücken benutzen mussten; geradeaus kam man nie weiter.
»Sie ist sehr schön, eure Stadt«, sagte Lucien.
»Stimmt, deshalb ist sie auch so reich«, stellte Arianna nüchtern fest. »Schönheit bedeutet Geld – das ist das Motto von Bellezza – Bellezza e moneta.«
»Wo gehen wir hin?«, fragte Lucien.
»Wir können uns die Scuola ja mal ansehen«, erwiderte Arianna knapp.
Sie überquerten einen weiteren kleinen Kanal und erreichten einen Gehweg, der an einem viel breiteren Kanal entlanglief. Am anderen Ende einer steinernen Brücke war ein prächtiges Gebäude, auf dem über dem Eingang »Scuola Mandoliera« eingemeißelt war. Davor schaukelten mehrere schwarze Boote und geschäftige Menschengruppen kamen und gingen, als ob etwas Wichtiges in Gang wäre.
»Mandoliers«, sagte Lucien. »Das sind die Männer, die die Boote rudern, stimmt’s?«
Arianna sah ihn mit einem vernichtenden Blick an. »Führen sagt man, nicht rudern. Und es sind keineswegs Boote, sondern Mandolas. Weil sie mandelförmig sind. Es ist ziemlich schwierig, sie zu führen.«
»Hast du es schon probiert?« Lucien warf einen Blick auf die schmalen Kähne. Er musste daran denken, wie er auf dem Fluss in Cambridge mit seinem Onkel Graham, dem Bruder seiner Mutter, Stocherkahn gefahren war. Da stand man auch hinten im Kahn und stieß sich ab.
»Aber sicher«, sagte Arianna ungeduldig. »Auf den anderen Inseln haben wir auch Kanäle. Und ich bin auf Torrone mein Leben lang mit Mandolas umgegangen. Meine beiden Brüder sind Fischer auf Merlino.«
Sie zog die Stirn kraus.
»Ich habe sie in ganz schlimme Schwierigkeiten gebracht – und wegen gar nichts! Unsere Eltern werden sich zu Tode ängstigen, weil sie gestern Abend ohne mich nach Hause gekommen sind. Ich bin ihnen entwischt, verstehst du. Meine Eltern wissen gar nicht, wo ich bin.«
Lucien erwiderte nichts, aber plötzlich dachte er an seine Eltern. Wenigstens weiß Arianna selbst, wo sie sich befindet, dachte er. Was ich von mir nicht behaupten kann.
Arianna umklammerte seinen Arm. »Es ist wohl Zeit für die Auswahl«, zischte sie. »Das ist die Mandola der Duchessa.«
Eine kunstvoll verzierte Mandola glitt geschmeidig durchs Wasser, geführt von einem überaus hübschen jungen Mann. Sie hatte in der Mitte einen Aufbau mit einem Baldachin aus silbernem Brokat.
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