Stadt der Masken strava1
spürte, wie gern er sie beide bereits hatte. Es war schlimm genug, befürchten zu müssen, dass er seine Eltern, die er liebte, verlassen musste. Doch jetzt musste er daran denken, dass er sich vielleicht ebenso bald von Bellezza verabschieden musste – und von all den Leuten dort, die ihm inzwischen so viel bedeuteten.
Rinaldo di Chimici lebte auf Messers Schneide. Es gab keinen Hinweis, dass irgendjemand von seiner Beteiligung an dem Attentat wusste. Seine junge Kusine Francesca war in der Stadt und ein Mönch hatte bereits die Hochzeitszeremonie zwischen ihr und einem ältlichen bellezzanischen Ratsherrn vollzogen, der den Großteil seines Vermögens mit Spiel und Trunk vergeudet hatte. So war Francesca nun Bellezzanerin und konnte als Duchessa kandidieren.
Die nächsten paar Tage konnten die Erfüllung all seiner Hoffnungen auf einen Aufstieg in der Familie bringen. Wenn er Bellezza dem Machtbereich der di Chimici sicherte, wäre das ein dicker Edelstein in der Krone seines Ehrgeizes. Doch er spielte um einen noch höheren Einsatz. Er musste erlangen, was der Junge besaß. Und deshalb schickte er wieder nach Enrico.
Doch der Spitzel weigerte sich in die Räume des Botschafters zu kommen. Sie trafen sich in der kleinen Taverne bei dem alten Theater. Di Chimici stellte erschrocken fest, wie sehr sich Enrico verändert hatte. Seine übliche Zuversicht war verflogen; er wirkte ungepflegt und vernachlässigt.
»Was geht hier eigentlich vor sich?«, zischte er, sobald ihm sein Arbeitgeber ein großes Glas Strega hatte vorsetzen lassen. »Meine Verlobte ist verschwunden –
keiner weiß, wo sie ist. Und keiner weiß, wo ihr Silber ist.«
Di Chimici dachte bei sich, dass sie es sich vielleicht anders überlegt hatte, statt sich an einen so unangenehmen Burschen zu binden, aber eine Erklärung konnte er auch nicht anbieten. Er sagte ein paar beruhigende Worte, die ihm gerade ein
fielen, aber er war schließlich nicht gekommen, um über das Liebesleben seines Spitzels zu sprechen.
»Ich brauche dich nochmals für eine Aufgabe«, sagte er schließlich.
»Nur gegen Geld«, erwiderte Enrico automatisch.
»Natürlich«, pflichtete ihm der Botschafter bei.
»Um was handelt es sich?«
»Ich will, dass du – äh – den Jungen fängst.«
»Wollt Ihr, dass ich ihn töte?«
Di Chimici schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Nur wenn er sich wehrt. Ich will, dass du ihm all seine Besitztümer entwendest und sie mir bringst. Denk dar
an, alles, egal, wie unwichtig es dir erscheinen mag.«
Enrico richtete sich auf. Die Aussicht auf weiteres Silber hatte ihn ein wenig wachgerüttelt. Und diese Aufgabe war leicht. Er war es ja gewohnt, dem Jungen zu folgen.
Als Arianna nach Bellezza zurückkehrte, begab sie sich direkt ins Haus ihrer Tan
te und schloss sich einige Stunden mit Silvia ein. Dann schickten sie nach Rodol
fo und die drei Stravaganti trafen sich mit ihnen im Garten mit dem Brunnen.
Arianna sah Lucien kurz mit ihrem strahlenden Lächeln an, doch dann wurde sie wieder ernst. Lucien fand, dass sie aussah, als sei sie in den paar Tagen, die sie fort gewesen war, viel erwachsener geworden. Ob er selbst wohl auch älter aus
sah?
»Ich habe mich entschlossen«, sagte sie nur.
Der Tag der herzoglichen Wahl war gekommen. Eine hölzerne Bühne war auf der Piazza Maddalena errichtet worden und ein städtischer Beamter saß mit einer Liste der Bürger an einem Tisch. Er hatte zwei Kisten mit schwarzen und weißen Kieseln, aus denen jeder Bürger, der wählen durfte – also jeder Bellezzaner über fünfzehn –, einen nehmen musste. Weiß war für Francesca di Chimici, schwarz für die andere Kandidatin, deren Name noch nicht verkündet worden war.
Die gewählten Kiesel würden in Schalen gelegt und später im Ratssaal gezählt und das Ergebnis sollte dann am Abend verkündet werden. Es kursierten Gerüch
te, dass es eine echte zweite Kandidatin gab, nicht nur eine pro forma. Doch niemand wusste bisher, wer es war. Schon versammelten sich die Bürger auf der Piazza und zum ersten Mal seit dem Attentat vibrierte die Menge wieder vor Auf
regung. Der Palazzo war noch immer von großen, hölzernen Stangen versperrt.
Es gab weniger fremde Besucher als sonst, doch wer sich gerade in der Stadt befand, sollte eine Überraschung erleben.
Als die Glocke des Campanile elf Uhr schlug, betrat eine kleine Gruppe von Men
schen die Bühne: Rodolfo, Arianna und Signora Landini. Francesca di Chimici, die jetzt dank ihrer
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