Stadt der Masken strava1
doch jemand anders hätte wählen können als die leibliche Tochter der Duchessa.
Während Enrico das Silber stillschweigend einsackte, ertönten vor dem Palazzo die Rufe »Viva Bellezza!«, »Viva la Duchessa!«. Bellezza hatte wieder eine Herrscherin.
Kapitel 19
Zwischen den Welten
Als Lucien das Ergebnis der Kiesel-Auszählung erfuhr, schleuderte er seinen Hut in die Luft und jubelte mit dem Rest der Menge. Er stand mit William Dethridge vor dem herzoglichen Palazzo. Der alte Stravagante hakte sich bei ihm unter und beide schrien so lange »Viva la Duchessa!«, bis sie heiser waren.
Es gab keinerlei Möglichkeit, wie sie den mit Menschen gespickten Innenhof hätten überqueren und zu ihren Freunden gelangen können. Rodolfo und Arianna betraten den Palazzo durch die große Eichentür am Ende der weißen Marmortreppe und waren nicht mehr zu sehen. Di Chimici und seine Kusine kämpften sich durch das Volk, das in die entgegengesetzte Richtung drängte. Lucien sah die beiden kommen und zog sich mit Dethridge auf die Piazza zurück, wo soeben eine spontane Siegesfeier begann.
Holzbretter wurden auf Böcke gelegt, Bierfässer herbeigerollt und Handkarren, die mit Käselaiben, ganzen Schinken und dem Bellezzaner Fladenbrot in der Grö
ße von Wagenrädern beladen waren, wurden auf den Platz gezogen. Die Stadt hatte sich halbherzig auf die Wahl der neuen Duchessa vorbereitet, doch das Ergebnis war nun besser ausgefallen, als sich die Leute hatten träumen lassen –
und das wollten sie jetzt im großen Stil feiern.
»Lass uns auf die Gesundheit der neuen Duchessa trinken!«, sagte Dethridge, der vor Aufregung glühte, und führte Lucien an einen der Stände, wo man Bier in Holzbechern kaufen konnte. Lucien nahm einen kleinen Schluck der dünnen, säuerlichen Flüssigkeit und verzog das Gesicht. Sie schmeckte nicht halb so gut wie Prosecco, aber Dethridge war es offensichtlich gewohnt, etwas Ähnliches zu trinken. Er kippte den Inhalt hinunter und holte sich bereits Nachschub. Er brachte so viele Trinksprüche aus, dass Luciens Becher ebenfalls bald leer war und der Platz unter ihm allmählich zu wanken begann.
»Hoppla! Sachte junger Mann«, sagte der Dottore und lachte. »Du scheinst nicht mehr zu wissen, wie viele Füße du hast. Ich hole dir etwas zu essen, damit du wieder aufrecht stehen kannst.«
Lucien sah zu, wie sich Dethridge durch die Menge zu einem Stand mit Speisen durchwand. Er war rundum glücklich; Arianna war zur Duchessa gewählt worden, und das musste doch den Beginn von vielen neuen Abenteuern bedeuten. Er wusste zwar immer noch nicht, was die Zukunft für ihn bereithalten würde, doch im Augenblick genoss er einfach die Gegenwart. Er war unter Freunden und würde mitfeiern wie ein richtiger Bellezzaner.
Sorglos in seinem Glück bemerkte Lucien kaum, dass ein Mann aus der Menge seinen Arm packte; alle Bellezzaner hakten sich heute ein oder umarmten sich.
Doch dieser Mann schien ihn vom Platz und irgendwo hinzuzerren. Als Dethridge zurückkam, war Lucien verschwunden.
Silvia beging ihre eigene kleine Feier in Leonoras Garten. Die beiden Frauen sa
ßen an dem Brunnen und tranken Wein.
»Wirst du all den Pomp und die Eleganz nicht auch vermissen?«, fragte Leonora, während sie den Jubelrufen von der Piazza lauschten.
Ihr Gegenüber antwortete nicht sofort. »Bisweilen vielleicht schon«, sagte sie nach einer Pause. »Aber diesen Preis bin ich gewillt zu zahlen. Ich will meine Freiheit. Ich bin es leid, jede Woche im Rat zu sitzen und mir die Verbrechen anhören zu müssen, die mein Volk begeht. Ich bin es leid, die kleinlichen Kümmernisse der Menschen jeden Monat vorgetragen zu bekommen. Ich möchte ohne Maske durch die Straßen gehen. Ich möchte die furchtbar öden Unterhaltungen mit Rinaldo di Chimici und seine aufdringlich duftenden Taschentücher nicht mehr ertragen müssen. Und vor allem möchte ich nicht mehr, dass man versucht mich umzubringen.«
»Es ist dir also lieber, dass sie versuchen deine Tochter umzubringen?«, fragte Leonora unbewegt.
»Das tun sie nicht«, erwiderte Silvia rasch. »Mit der neuen Duchessa müssen sie erst mal wieder ganz von vorne verhandeln. Es sind Jahre mit diplomatischem Hickhack ins Land gegangen, ehe die di Chimici begriffen, dass ich ihren unglückseligen Vertrag nie unterzeichnen würde. Erst dann haben sie sich aufs Morden verlegt. Und mit Sicherheit glauben sie, dass sie mit einer Duchessa, die so jung und unerfahren ist, bessere Chancen
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