Stadt der Schuld
Horace Havisham.«
Es war nicht zu übersehen, dass Eastman der Schreck gehörig in die Glieder fuhr. »Havisham, sagst du? Himmel, du hast allerdings recht daran getan, sofort heraufzukommen. Havisham wäre sicher der Letzte, der eine geschäftliche Verbindung zu uns herausposaunen würde.«
Bertram Fenwick nickte bedächtig, nicht ohne seinen jungen Herrn dabei auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Selbstverständlich war ihm nur zu gut bekannt, dass die bis vor knapp zweieinhalb Jahren überaus stabile geschäftliche und auch, so konnte man es wohl nennen, freundschaftliche Verbindung von seinem Arbeitgeber zu Horace Havisham ein plötzliches und jähes Ende gefunden hatte, aber er hatte nie den Grund dafür erfahren. Eine finanzielle Unregelmäßigkeit seines Arbeitgebers schloss er dabei aus.Eastman & Son arbeiteten seriös, auch wenn sie einen Gutteil ihres Geldes mit teils wagemutigen Spekulationen in die Produkte der überseeischen Plantagen einnahmen. Zucker, Rum und – seit John Goodyears 44 segensreicher Entdeckung über die Verwendung des Kautschukbaumsaftes – in jüngster Zeit auch Gummi waren ihre bevorzugten Betätigungsfelder. Aber vor allem die Finanzierung des Opiumhandels in Asien, der auch von der Regierung Ihrer Majestät unterstützt wurde, brachte den größten Verdienst. Es war also wirklich nichts an der Seriosität der Geschäfte von Eastman & Son auszusetzen. Er vermutete deshalb, dass eine persönliche Unstimmigkeit der beiden Männer zu dem plötzlichen Bruch geführt hatte. Das alles hatte sich kurz vor dem Zeitpunkt ereignet, als dieses schwarze Hurenweib hier aufgetaucht war. Seitdem hatte man von Horace Havisham im Hause weder etwas gehört noch gesehen.
»Gut, Fenwick!« Der junge Herr wirkte nun regelrecht fahrig. »Du kannst jetzt wieder hinuntergehen. Ich werde mich dieses Gentlemans persönlich annehmen. Hat er seinen Namen genannt?«
»Ja, Sir! Er sagte, er hieße Weston. Ich hoffe, dass dies der Wahrheit entspricht.«
Sein Arbeitgeber sah ihn erschrocken an. »Wieso sollte es das nicht?«
Fenwick lächelte überlegen, diesen kleinen Triumph gönnte er sich. »Sir, wie Sie wissen, bin ich schon sehr lange für dieses Unternehmen tätig und wenn ich mir etwas zu Gute halten kann, dann meine Menschenkenntnis. Dieser Mann führt ohne Zweifel etwas im Schilde. Ich befürchte fast, er ist ein Spitzel. Allerdings kann ich mir nicht denken, was er bei uns zu finden hofft. Eastman & Son ist, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, ein seriöses Unternehmen.«
»Ah, ja ... gewiss, Fenwick«, murmelte Eastman abwesend. Nervös knetete er seine Unterlippe. »Ein Polizeispitzel vielleicht?«
Fenwick zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es wirklich nicht, Sir, empfehle aber, ihm mit der gebotenen Vorsicht gegenüberzutreten, wenn er Sie morgen aufsucht, was er gewiss tun wird.« Er wurde den Eindruck nicht los, dass sein Arbeitgeber ihm kaum noch zuhörte.
»Ja ..., danke, Fenwick. Ähm, ich werde nachher nicht zu Hause sein. Ich muss noch einen Besuch machen.«
Der Schreiber warf seinem Herrn einen schnellen, prüfenden Blick zu, hütete sich aber, die überraschende Ankündigung zu kommentieren. Stattdessen nickte er kurz und machte sich auf den Weg zurück ins Kontor. Die Beunruhigung des jungen Eastman war mit Händen zu greifen gewesen. Irgendetwas Dubioses hatte sich da bezüglich dieses Mr Havisham zugetragen und Bertram Fenwick war sich nun endgültig sicher, dass sein Arbeitgeber die Hände dabei gewiss nicht in Unschuld wusch. Dessen blasse Züge und seine Fahrigkeit sprachen Bände. Dennoch, er, Fenwick, würde alles daran setzen, dass Eastman & Son als Unternehmen keinerlei Verdächtigungen ausgesetzt würde und sollte er dafür Meineide leisten müssen!
Kapitel 35
London, am späten Abend des 10. Dezember 1840
Kapitel 35
Es war gar nicht einfach, sich den Weg durch die Menge der Journalisten und Schaulustigen zu bahnen, die selbst zu dieser späten Stunde noch das Haus an der Great Russell Street belagerten. Horace sah sich schließlich gezwungen, seine nicht unbeträchtliche Körperkraft einzusetzen, um sich aus der Traube der ihn umringenden Zeitungsschmierfinken zu befreien. Doch die gaben nicht auf und setzten ihm weiter mit Fragen zu wie hungrige Hyänen. Pfiffe und enttäuschte Rufe hallten hinter ihm her, als er mit Gewalt die schmiedeeiserne Pforte des Vorgartens hinter sich schloss, um dann den kurzen Weg zur Eingangstür in gestrecktem Lauf
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