Stadt der Schuld
aus. »Oh Gott, was habe ich getan? Wie konnte ich nur so dumm sein? Wie konnte ich nur einem Mann wie dir Glauben schenken? Das werde ich mir nie verzeihen.« Ihre Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe.
Er stand da, wusste einfach nicht, was er tun sollte. Schließlich ging er doch auf sie zu und versuchte, sie in den Arm zu nehmen. Sie gestattete es ihm nicht, wehrte sich nach Kräften gegen ihn. Ratlos und verwirrt ließ er wieder von ihr ab.
Meredith wich zurück zur Wand und starrte ihn an. Ihr Atem ging schwer. »Warum nur, Horace? Warum konntest du es nicht lassen, wie es war? Ich hatte dich so sehr angefleht darum!«
»Und ich habe mich daran gehalten! Ich schwöre es. Was ist denn nur geschehen, Meredith? Ich verstehe das alles nicht.« Er streckte seine Hand nach ihr aus. »Ich liebe dich doch, mehr als ich sagen kann. Ich würde dir niemals Schmerz zufügen.«
»Ha!« Die Bitterkeit in ihrem kurzen Auflachen vernichtete ihn. »Ausgerechnet du wagst es, mir das zu sagen?« Sie wandte sich von ihm ab. »Ich kann dir nicht mehr glauben. Ich bedaure es zutiefst, aber ich habe mich entsetzlich in dir geirrt. Und ich habe damit die Menschen, die ich liebte, verraten. Ihr Fluch wird über uns kommen.« Sie stockte, als würde sie sich der Tragweite ihrer Worte erst in diesem Moment bewusst. Dann sagte sie, mühsam um Fassung ringend: »Ich möchte dich dringend bitten, jetzt zu gehen, Horace. Lass mich einfach in Ruhe. Wir haben schon genügend Unheil angerichtet.« Sie schluckte schwer und richtete dann ihren Blick auf ihn. Er fühlte sich wie ein Verdammter, nackt und bloß vor ihren Augen. Scham übermannte ihn. »Möge Gott dir verzeihen, Horace! Ich kann es nicht, genauso wenig, wie ich mir selbst jemals verzeihen kann.«
Abgrundtiefe Verzweiflung bemächtigte sich seiner. »Aber, Meredith! Bitte! Glaube mir, ich habe nichts damit zu tun. Ich bin genauso entsetzt über diese schreckliche Entwicklung wie du. Lass mich doch um Gottes willen etwas tun, irgendwie helfen.« Doch Meredith antwortete ihm nicht. Stattdessen wandte sie sich endgültig ab und tastete entkräftet nach einem Halt an der Wand. Fast fürchtete er, sie würde gleich zusammenbrechen, doch irgendwie schaffte sie es, sich aufrecht zu halten. »Geh, Horace!«, flüsterte sie endlich, kaum hörbar und mit geschlossenen Augen. Es war schlimmer, als wenn sie ihn weiter angeschrien hätte. Eine plötzliche Enge presste seinen Brustkorb zusammen. Er konnte kaum mehr atmen, spürte, wie sich Tränen hinter seinen Lidern sammelten. Es war vorbei und er hatte nicht einmal den Hauch einer Ahnung, warum. Doch was machte das jetzt noch aus? Wortlos drehte Horace sich um, ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich. Einen Augenblick stand er noch unschlüssig auf dem vertrauten Flur, zögerte. Doch dann stieg er langsam die Treppe hinunter.
Tom kam ihm in der schmalen Eingangshalle aufgeregt entgegen. »Mr Havisham, ich habe den Schlüssel! Soll ich nun zur Polizei gehen?«
»Nein, lass nur.« Horace wunderte sich, dass seine Stimme ihm noch gehorchte. Er fühlte sich, als sei er soeben gestorben. Tom sah ihn verdutzt an. »Geht es Ihnen gut, Sir? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«
»Nein ...« Wie in Trance ging er auf die Haustür zu.
»Sir, Sie können dort nicht hinaus!« In Toms Stimme schwang jetzt Panik. Das brachte ihn etwas zur Besinnung. »Du hast recht, Tom. Ich werde durch den Keller hinausgehen.« Irgendwie wirkte alles so surreal. Träumte er? Wie durch Watte drang Toms Stimme zu ihm. »Ich werde Sie begleiten, Sir. Ich kenne den Hausdiener des Nachbarhauses gut, er wird Sie sicher hinauslassen, ohne dass es diese Halunken und Schandmäuler da draußen mitbekommen.«
Horace nickte mechanisch und stolperte hinter Tom die Kellertreppe hinunter in die dunklen Tiefen der Londoner Gewölbe.
Einige Augenblicke später stand er auf der Straße und sah aus sicherer Entfernung zu der aufgebrachten Menge hinüber, die den Gehsteig vor der Hausnummer 64 bevölkerte. Schon hatte ein verwahrlostes, angetrunkenes Weib im Mob die Wortführerschaft übernommen und schrie wüste, unflätige Beleidigungen gegen die hilflosen Bewohner des Stadthauses hinaus. Andere johlten und applaudierten lautstark. Bald schon, das war mit Händen zu greifen, würden sie sich nicht mehr nur mit Worten begnügen. Es war keine Zeit zu verlieren. Seine Kutsche stand ein wenig weiter die Straße hinauf. Zum Glück war der Kutscher klug genug gewesen, mit dem
Weitere Kostenlose Bücher