Stadt der Schuld
Isobel wütend, was ihr einen indignierten Blick Godfreys einbrachte.
Der war bass erstaunt, um nicht zu sagen entsetzt gewesen, als er bei seinem Eintreffen in London drei Tage zuvor den Akten der Anklage entnommen hatte, dass es Isobel höchstpersönlich gewesen war, die Anzeige gegen ihren Gatten erstattet hatte. Dies sei, so hatte er ihr gegenüber reserviert verlauten lassen, immerhin mehr als ungewöhnlich, abgesehen von der unerfreulichen Tatsache, dass sie ihm dieses wichtige Detail bei ihrer Unterredung in Manchester verschwiegen hatte. Ha! Und wenn schon – sonst wäre er ja womöglich gar nicht mitgekommen! Nachdem sie ihm jedoch wortreich und unter etlichen Tränenausbrüchen auseinandergesetzt hatte, dass es ihr unerträglich gewesen sei, weiter mit dem mutmaßlichen Mörder ihres geliebten Bruders unter einem Dach zu leben, ja gar das Bett zu teilen, und sich dabei stündlich vorwerfen zu müssen, dass diese entsetzliche Schuld durch ihre Untätigkeit ungesühnt bliebe und die Seelen ihres Bruders und armen Vaters so gewiss keine Ruhe fänden, hatte er sich besänftigen lassen und verfolgte engagiert ihre Interessen. Es lief also alles so weit nach Plan. Doch nun drohte ihr Armindale, vielmehr das Fehlen dieses unfähigen Kretins, einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen. Es war zum Verrücktwerden. Dennoch: Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Sie ließ ihren Blick durch die vollbesetzten Zuschauerränge schweifen. Nein, sie würde sich keine Blöße geben, nicht vor all diesen Leuten! Leuten, wie ... sie erstarrte, glaubte ihren Augen nicht trauen zu können: Meredith Baker! Was machte das Weibsstück hier? Und warum um alles in der Welt saß sie direkt neben Mr Gruber, der sich nun vertraulich zu ihr neigte, etwas sagte und auf den Verteidiger wies, der soeben seine Bank auf der gegenüberliegenden Seite des Gerichtsraums betrat. Was hatte das zu bedeuten? Isobel biss sich nervös auf die Unterlippe. Da wandten sich alle Blicke der kleinen Tür zu, durch die Horace nun in Ketten von zwei Gerichtsdienern hereingeführt wurde.
Ein befriedigtes Raunen ging durch den Raum. Ja, das war ein Ereignis ganz nach dem Geschmack der Londoner Gesellschaft. Horace Havisham, ein gefallener Ehrenmann! Einer, der aus dem Olymp der Mächtigen gestürzt war, um Hochzeit mit des Seilers Tochter zu halten, ganz so wie all die ungezählten armen Schlucker, an die niemand auch nur einen Gedanken verschwendete. Oder vielleicht doch einer, dem es wider Erwarten gelingen würde, sich der sicheren Schlinge zu entwinden, sich zu erheben wie Phönix aus der Asche? Wer konnte das wissen? Man versprach sich jedenfalls willkommene Abwechslung und prickelnden Nervenkitzel, dafür lohnte der Besuch dieser Verhandlung allemal.
Isobel betrachtete ihn angewidert: Horace sah furchtbar aus, bleich und übernächtigt, wie er war. Seine sonst so akkurat gebändigten Locken waren ungekämmt und der gepflegte Bart, der ihn immer so respektabel und männlich hatte erscheinen lassen, wucherte wild. Sein feiner Anzug war verschmutzt und saß beileibe nicht mehr so gut wie noch vor Kurzem. Er hatte deutlich abgenommen. Horaces Blick huschte durch die aufgeregt tuschelnde Menge und blieb für einen langen Moment an Gruber und Meredith Baker hängen, bevor er sich wieder in sich zurückzog. Sie selbst hatte er keines Blickes gewürdigt, obwohl sie direkt vor ihm saß. Nun ja!
Dann erhoben sich alle, denn der ehrenwerte Lordrichter und die Geschworenen betraten den Saal. Isobel spürte, wie sie vor Anspannung bebte. Wenn Armindale nicht mehr auftauchte, dürfte es schwierig werden, die Anklage zu beweisen. Horaces unvollendeter Brief, das hatte auch der Staatsanwalt leider bestätigt, war zwar verdächtig, aber als Beweis zu wenig aussagekräftig, zumal die entscheidenden Zeilen verwischt und deshalb Objekt reiner Spekulation waren.
Der Lordrichter, der unter einem mit reichlichen Schnitzereien verziertem Holzbaldachin hoch über ihnen thronte, hob seinen richterlichen Hammer und schlug damit auf das kleine, dafür vorgesehene Holzbänkchen auf seinem Tisch. »Ich eröffne das Verfahren gegen Horace Havisham, Herr über Whitefell, Wiltshire, Abgeordneter für Wiltshire im Unterhaus der Regierung Ihrer Majestät, wohnhaft in Marylebone, London. Horace Havisham wird beschuldigt, den Mord an Daniel de Burgh – den Sohn und Erben des ehrenwerten, verstorbenen Francis de Burgh sowie Bruder der Ehefrau des Beklagten, Isobel
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