Stadt der Schuld
Kenntnis gesetzt, als sie damals die Zusammenarbeit aufgenommen hatten. Gab es da etwa noch ein Geheimnis? Armindale knetete nachdenklich seine Unterlippe. Schade! Dieses Rätsel war jetzt nicht zu lösen, er würde sich später darum kümmern müssen. Stattdessen hieß es jetzt, die Gunst der Stunde zu nutzen und Mrs Havisham seine Aufwartung zu machen.
***
»Die Herrin ist nicht zu sprechen!«, sagte Pool ungnädig.
»Ich weiß aber, dass sie zu Hause ist!«, beharrte Armindale. Doch der Butler war drauf und dran, ihn von der Schwelle zu drängen. Offenbar war sein Besuch unerwünscht. Da hörte Armindale plötzlich die befehlsgewohnte Stimme Isobel Havishams vom oberen Absatz der Treppe. »Mr Pool! Was um alles in der Welt ist hier los? Hier geht es ja plötzlich zu wie in einem Taubenschlag.«
Pool drehte sich sofort dienstbeflissen zu seiner Herrin um, was Armindale die Gelegenheit gab, die Eingangshalle zu betreten. »Mrs Havisham, dieser Gentleman hier wünscht Sie zu sprechen, aber ich traue ihm nicht. Seit Tagen beobachtet er das Haus und ...«
Armindale fiel dem Butler ins Wort und nahm im selben Augenblick seinen Hut ab, damit Isobel Havisham sein Gesicht sehen konnte. »Ich muss doch sehr bitten, Mr Pool. Die Dame kennt mich. Ich war bereits zu Gast auf Whitefell.« Pool, der im Hause Havisham erst seit einem Jahr seinen Dienst versah, starrte ihn skeptisch an, doch die Reaktion seiner Herrin belehrte ihn eines Besseren. »Ah, Mr Armindale! Welche Überraschung! Kommen Sie doch herein!« Sie bedachte den pflichtbewussten und offenbar auch sehr aufmerksamen Butler mit einem vernichtenden Blick. Das konnte Armindale nur recht sein.
»Ich fürchte nur, mein Gatte ist eben überraschend ausgegangen«, teilte ihm Isobel Havisham mit, während sie auf ihn zukam.
Armindale verbeugte sich höflich. »Ja, ich sah ihn eben gehen, als ich kam.« Pool zog die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts dazu. Er hatte wohl die Befürchtung, er würde sich dann einen noch strengeren Tadel seiner Herrin zuziehen. Es war allerdings nicht zu übersehen, dass er weiterhin misstrauisch war. Armindale beschloss, vorsichtig zu sein. Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf: »Allerdings wollte ich auch, um der Wahrheit die Ehre zu geben, mit Ihnen sprechen, Madam.«
»Mit mir?« Isobel Havisham hob erstaunt die Augenbrauen. »Ich wüsste nicht ...?«
»Ich hatte vor wenigen Tagen die Gelegenheit, mich ausführlich mit Ihrem hochgeschätzten Herrn Vater zu unterhalten«, erklärte Armindale schnell.
»Mit meinem Vater? So?« Sie blickte ihn mit gelindem Zweifel an.
»Er lässt Ihnen seine besten Grüße ausrichten«, fügte Armindale rasch hinzu.
»Das sollte mich wundern!«, murmelte die Dame des Hauses, doch ihre Neugier schien geweckt. Sie wandte sich an den Butler. »Pool, bitte bringen Sie uns etwas Tee und Gebäck in den kleinen Salon.« Der zögerte einen Moment, immer noch nicht sicher, ob er es wagen konnte, seine Herrin mit dem ungebetenen Gast allein zu lassen.
»Nun machen Sie schon, Pool!«, raunzte Isobel ihn ungnädig an, sodass der Mann erschreckt zusammenfuhr. Dann bedeutete sie Armindale, ihr in den Salon zu folgen.
Der ließ sich nicht zweimal bitten. Endlich!
»Wie geht es meinem Vater?«, fragte Isobel Havisham und lud ihn ein, Platz zu nehmen.
»Oh, es geht ihm leider nicht sehr gut. Ich bedaure, das sagen zu müssen. Aber Sie wissen ja sicher über seine Erkrankung Bescheid.«
»Nun, ich ... äh, mein Vater und ich haben nicht den wärmsten Umgang miteinander.« Sie wirkte ein wenig betreten. Vielleicht konnte er diesen leisen Anflug von schlechtem Gewissen nutzen, überlegte Armindale rasch. Er beschloss, ihre Befangenheit noch etwas zu verstärken. »Dann bedauere ich umso mehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es Ihrem Vater in der Tat sehr schlecht geht. Ich fürchte, die Krankheit wird bald ihren endgültigen Tribut fordern.«
Sie schien tatsächlich einen Augenblick erschrocken. »So schlimm steht es um ihn? Um welche Krankheit handelt es sich denn?«
»Rückenmarkstuberkulose !«
»Oh!«
»Ja, es ist ein Jammer!« Armindale seufzte bedeutsam.
»Ich werde ihn in den nächsten Tagen besuchen!«, sagte die Dame des Hauses nach einer kleinen Pause kühl. Der Moment des Bedauerns war offenbar vorüber. Armindale wurde augenblicklich bewusst, dass er ihr nicht so einfach die gewünschten Informationen würde entlocken können. Frontaler Angriff oder vorsichtiges Taktieren, das war hier
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