Stadt der Schuld
würde sein zugegebenermaßen seltsames Verhalten nicht einfach hinnehmen, wie es andere Ehefrauen in ihrer Situation wahrscheinlich tun würden. Doch er hatte es überstanden, ja, er hatte ihr widerstanden und er war unendlich erleichtert darüber. Es war ihm vor allem gelungen, sich selbst zu widerstehen – endlich! Und er wusste auch warum.
Ungeduldig stand er auf und hieb an die Frontwand der Kutsche. »Können Sie nicht ein wenig schneller fahren?«, rief er der dickvermummten Gestalt auf dem Kutschbock durch das kleine Gitter zu. Der Kutscher nickte knapp und hieb folgsam auf den Gaul ein, sodass das Gefährt ordentlich anruckte und Havisham sich rasch wieder setzen musste, um nicht umhergestoßen zu werden. Es konnte ihm einfach nicht schnell genug gehen, bis er wieder bei Meredith war. Mit Engelszungen hatte er sie überredet, mit ihm einige Tage an die Küste zu kommen.Erst hatte sie gezögert und viele Einwände vorgebracht, aber dann schließlich eingewilligt. Er war selig. Diese bevorstehenden Tage in seinem Cottage in Southamptonshire 30 an der rauen See, vereint mit der Frau, die er so sehnsüchtig liebte, würden ihm vielleicht auch helfen, wieder zu seiner Mitte zu finden. Aber das war nicht der alleinige Grund. Nein, beileibe nicht! Er konnte es einfach kaum erwarten, sie wieder in seinen Armen zu halten. Oh, wie er sie liebte!
Als die Kutsche in der Great Russell Street vorfuhr, sah er, wie sich im ersten Stock die Vorhänge bewegten. Bestimmt hatte Meredith ihn schon erwartet. Rasch stieg er aus und ging auf das Haus zu. Da öffnete sich schon die Tür und Tom trat mit einer Reisetasche in der Hand heraus. Havisham nahm sich nicht die Zeit ihn zu begrüßen, sondern ging erwartungsvoll auf den Eingang zu. Gott sei Dank, sie hatte es sich nicht noch einmal anders überlegt. Sie würde mit ihm kommen! Da erschien sie auch schon in der Tür. Ihre schlanke Silhouette, die Sanftheit ihrer Züge raubten ihm den Atem. Sie war so unendlich schön! »Meredith, ich bin so froh!«, sagte er. Sie nickte, doch er sah die Besorgnis in ihren Augen. »Ich weiß nicht, ob ich Joseph einfach so allein lassen kann!«, sagte sie unsicher.
»Mein Engel, wir haben das doch besprochen«, meinte er begütigend. »Es ist doch nur für ein paar Tage. Er wird es sicher verstehen, und er hat doch Mrs Goddard und auch Toni und Becky. Sie werden sich nach Kräften um ihn bemühen. Und du wolltest doch auch Rupert schreiben und ihn bitten, dass er nach ihm sieht. Hast du das getan?«
Sie nickte. »Ja, sicher! Er hat schon geantwortet und wünscht uns viel Glück und eine schöne Reise!« Sie errötete sanft. Am liebsten hätte er sie auf offener Straße geküsst, doch das war natürlich undenkbar.
»Und beides werden wir haben. Du wirst sehen!«, sagte er und reichte ihr fürsorglich die Hand, um ihr den Einstieg in die Kutsche zu erleichtern. Sie lächelte flüchtig, drehte sich noch einmal zum Haus um, seufzte ein wenig und zögerte erneut. Doch dann stieg sie beherzt in die Kutsche. Havisham ließ den Atem, den er ängstlich angehalten hatte, erleichtert entweichen. Ja, sie würde mit ihm kommen. Sie war sein. Kein Mensch auf Gottes Erdboden konnte in diesem Augenblick glücklicher sein als er. Er wollte jetzt einfach nicht an all das andere denken.
Kapitel 16
Kapitel 16
Isobel betrachtete die eingefallenen Züge ihres Vaters mit kühlem Blick. Kaum zu glauben, wie erschreckend er gealtert war, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Die Krankheit würde tatsächlich schon bald ihren endgültigen Tribut fordern, soviel stand jedenfalls fest. Armindale hatte nicht übertrieben. Wieder stöhnte de Burgh auf. Es fiel ihm schwer, sich auf ihr Gespräch zu konzentrieren – umnebelt von Morphium, wie sie ihn vorgefunden hatte. Immer wieder schlief er mitten im Satz ein oder begann zu fantasieren. Nicht zum ersten Mal in der letzten halben Stunde war sie versucht, einfach aufzustehen und zu gehen. Doch sie zwang sich dazu, sitzen zu bleiben, auch wenn der allgegenwärtige Gestank von Krankheit, der seinem Körper entströmte, ihr mehr und mehr Übelkeit verursachte.
Zu dumm, dass diese Haushälterin – mit einer Näharbeit beschäftigt – sich immer noch im Zimmer aufhielt und sie von Zeit zu Zeit mit Blicken bedachte, die ihre tiefe Missbilligung kaum verbargen. Was bildete sich das Weib ein? Doch ihr Vater hatte selbst darum gebeten, dass die Frau blieb, wohl, damit sie ihm schnell Linderung verschaffen konnte,
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