Stadt der Schuld
unter der Tür durch, Mrs Giles!«, befahl er. Dann stürzte er in den Küchenraum. Meredith hob gerade das Schreiben vom Boden auf, das die Frau wie geheißen unter dem Schlitz der schweren Holztür durchgeschoben hatte. Er sah, wie ihre Hand zitterte. Rasch ging er zu ihr hin und nahm ihr den Brief aus der Hand.
Sie drehte sich zu ihm um, ihre Augen waren geweitet vor Schreck: »Ich hätte nicht fortgehen dürfen«, stammelte sie. »Es ist etwas geschehen, ich weiß es.«
Schnell warf er einen Blick auf das Schreiben und umfing sie dann zärtlich. »Der Brief ist von Rupert!«, sagte er in beschwichtigendem Tonfall. »Das muss doch nichts Schlimmes bedeuten. Vielleicht will er uns nur berichten, dass alles in bester Ordnung ist. Schließlich hattest du ihm ja vorsorglich unseren Verbleib angegeben. Er weiß doch, wie sehr du dich um seinen Vater sorgst. Aber das musst du nicht. Joseph ist bei Mrs Goddard doch in den besten Händen.«
Sie sah ihn zweifelnd an und versuchte, ihm den Brief wieder aus der Hand zu nehmen. Er ließ ihn schnell hinter seinem Rücken verschwinden. »Nein, Meredith! Gleichgültig, was in diesem Schreiben steht: Wir können heute doch nichts mehr unternehmen. Es regnet in Strömen und es wird bald dunkel. Es wäre zu gefährlich, heute Nacht noch nach London aufzubrechen und wir müssten eine Postkutsche nehmen.«
»Gib mir den Brief, Horace. Ich muss wissen, was darin steht.«
Er zögerte. Sorge stieg in ihm auf – und Trauer. Sollte es nun also schon zu Ende sein? Er liebte sie doch so. Er wollte diesen Zauber noch ein wenig festhalten. Nur noch ein wenig, ein paar kostbare Stunden – eine letzte Nacht! »Bitte, Meredith, morgen, ja?« Seine Stimme, sein Blick flehte.
Er sah, wie sie mit sich rang, uneins mit sich selbst, verwirrt und ängstlich. »Bitte, Liebste!«, bat er leise noch einmal. »Gib uns nur noch diese Nacht und ich verspreche dir, dass wir morgen früh sofort aufbrechen werden, sollte die Nachricht nicht gut sein. Ich schwöre es dir!« Mit klopfendem Herzen erwartete er ihre Entscheidung. Ihre Lider flatterten kurz, doch dann nickte sie ergeben. »Gut, wie du willst.«
»Oh, mein Engel!« Er küsste sie heftig und streifte dabei ungestüm die Decke, die sie um sich gewickelt hatte, von ihren Schultern. Nackt standen sie, dicht aneinandergedrängt in der kalten Zugluft, die der Sturm durch die Ritzen der alten Tür presste.
»Du musst mir etwas versprechen, Horace.«
»Was immer du willst, Liebste«, murmelte er, während er ihr Gesicht und ihren Hals weiter mit seinen Küssen bedeckte.
»Wenn wir zurückkehren nach London ... ich will nicht, dass sich etwas dort ändert. Es wäre zu gefährlich.«
Er hielt inne und sah sie unsicher an: »Was meinst du damit, du willst nicht, dass sich etwas ändert? Wie soll das gehen? Glaubst du, ich könnte nach dem, was zwischen uns passiert ist, einfach weitermachen wie bisher? Verflucht, ich liebe dich, Meredith! Ich will mit dir zusammen sein.«
»Das ist nicht möglich, Horace, und das weißt du so gut wie ich.«
Unwillig zog er die Brauen zusammen. Er wollte das nicht hören. Und wenn seine Beziehung zu Meredith das Aus für seine Karriere als Abgeordneter der Whigs bedeutete, dann sollte es ihm gleich sein. Er legte ohnehin keinen Wert mehr auf diese lästige Pflicht. »Ist es wegen meiner Frau?«, fragte er plötzlich. Allein der Gedanke an Isobel ließ eine Welle unguter Gefühle in ihm aufsteigen, von denen der Überdruss noch das angenehmste war.
»Nein ... doch, ja, natürlich auch wegen deiner Frau. Ich kenne sie ja nicht einmal. Sie darf es nie erfahren, nie! Ich will nicht, dass sie wegen mir unglücklich ist.«
»Hm!«
»Niemand darf es erfahren, Horace, hörst du! Wir müssen vorsichtig sein.«
Er ließ von ihr ab und lehnte sich, nackt, wie er war, mit verschränkten Armen rücklings an die Kante des groben Holztischs mitten im Raum. »Ich könnte mich scheiden lassen, wenn du das möchtest. Auch wenn es äußerst schwierig ist, wie du zweifellos weißt, und mich eine erhebliche Summe kosten wird«, sagte er ein wenig mürrisch. Dann aber meinte er bekräftigend: »Die Ehe mit Isobel ... nun, das war ohnehin ein Fehler, von Anfang an. Je eher ich es beende, desto besser! Koste es, was es wolle. Ich werde einiges in Ordnung bringen müssen, wenn ich zurückkomme. Ich habe nicht recht gehandelt.« Er sah sie mit brennenden Augen an. »Wichtig ist nur, dass du bei mir bist, Meredith.«
»Nein!« Sie kam
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