Stadt der Schuld
jedenfalls los, darauf hatte Mrs Ashworth ja bestanden.
Eine unbestimmte Furcht stieg in ihr auf, aber dann schob sie ihre Zweifel hastig beiseite. Mr Ashworth würde ihr helfen. Das hatte er doch gesagt!
Es mussten zwei Stunden vergangen sein, die sie in schläfrigem Dämmer verbracht hatte, als sie plötzlich durch Schritte auf der Treppe und Henry Ashworths wie so oft ungeduldige Stimme geweckt wurde.
»Einen Tee, Bertha! Ach ja, und noch etwas warmes Wasser zum Waschen, und das ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf.«
Schnell sprang sie auf und lief zur Tür. Die Schritte entfernten sich in Richtung der Wohnräume im Obergeschoss des Hauses. Jetzt oder nie! Sie riss die Tür der Gesindekammer auf. »Mr Ashworth?«
Er wandte sich abrupt um und starrte sie entgeistert an. »Du?! Was machst du hier, Mädchen?«
Sie trat heraus auf den Treppenabsatz und sah zu ihm hinauf: »Ich wusste nicht, wo ich hinsollte. Ich ... die Stantons haben mich hinausgeworfen«, log sie, »und in die Fabrik kann ich doch auch nicht mehr. Das hat Mrs Ashworth doch verlangt, und ... und da dachte ich ...«
»Da dachtest du was?« Mr Ashworths Stimme klang jetzt noch unwirscher als zuvor. Mary begann zu zittern. »Ich dachte, weil Sie doch immer gesagt haben, Sie kümmern sich um mich ... das haben Sie doch gesagt, Mr Ashworth, ja?« Die Worte versiegten ihr auf den Lippen. Sein Blick war nach wie vor unfreundlich und das jagte ihr die Angst bis in die Kehle hinauf.
»Du hast ja Nerven, Mädchen, hier aufzukreuzen. Wer hat dich überhaupt hereingelassen? Bertha, das dumme Schaf?«
Mary nickte stumm.
»Hm ... nun gut, jetzt, wo du einmal da bist ...« Er kam die Treppe wieder hinunter. Unten bei ihr angelangt sah er sie einen Augenblick sinnend an. Sie roch sein Parfum und den Tabakrauch. Bisher hatte sie diesen Geruch immer gemocht.
»Hier kannst du jedenfalls nicht bleiben«, resümierte er schließlich. »Wenn meine Frau dich hier oder in der Fabrik noch einmal sieht, wird sie nicht sehr glücklich darüber sein, das verstehst du doch.«
Mary nickte folgsam und sah ihn mit großen Augen an. Was gab es denn da zu überlegen? Konnte er nicht einfach für sie sorgen, wie er es so oft versprochen hatte? Doch dann schien Mr Ashworth eine Lösung gefunden zu haben. Sein Blick hellte sich merklich auf. »Ja, das wird das Beste sein. Sicher nehmen sie dich da!«, meinte er, ohne sich näher darüber auszulassen, welchen Ort er im Sinn hatte. »Hast du deine Sachen bei dir?«
Mary nickte ein zweites Mal und holte rasch ihr Bündel aus der Kammer. Sie beeilte sich dabei, als ginge es um ihr Leben. Nicht, dass Mr Ashworth es sich gar doch noch anders überlegte!
»Ist das alles?«, fragte er und betrachtete mit hochgezogenen Augenbrauen das schmutzige Leintuch, das nichts außer einem weiteren Kleid, zwei Unterröcken und dem Kamm, den er ihr geschenkt hatte, enthielt. Sie zog es vor, nicht zu antworten und schämte sich mit einem Mal ihrer Armut. Im Grunde war es doch lachhaft, dass ein Mann, der so reich und bedeutend war wie Mr Ashworth, sich ausgerechnet ihrer annehmen sollte. Was war ihr nur in den Sinn gekommen?
»Nun, Mrs Friwell, das alte Haus, wird dich schon noch ausstaffieren«, sagte Mr Ashworth, nahm sie am Oberarm und zog sie hinter sich drein aus dem Haus, über den Hof der Fabrik und dann auf die Straße. Ein paar Arbeiter, die nach der Schicht nicht gleich nach Hause gegangen waren, starrten ihnen neugierig nach, doch Ashworth kümmerte sich nicht weiter darum. Mary zog es vor, ebenfalls stur geradeaus zu blicken. Sie war neugierig, gewiss, wohin ihr eigennütziger Gönner sie bringen würde, aber im Moment überwog ihre Furcht.
***
Mary ließ den Blick staunend an der einstmals wohl recht imposanten, jetzt aber eindeutig bröckelnden Fassade des dreistöckigen Hauses, das an der großen Ausfallstraße nach Birmingham gelegen war, hinaufwandern. Sie war noch nie in diesem Bereich Manchesters gewesen, aber davon abgesehen war sie auch noch nie in einer Droschke gefahren, auch wenn es nur eine ganz normale Mietdroschke gewesen war, die Mr Ashworth mit einer kurzen Handbewegung herangewinkt hatte. Doch ihr Begleiter ließ ihr kaum Zeit, weiteren Überlegungen nachzuhängen. »Nun komm schon!«, sagte er etwas ungehalten. Auch auf der Fahrt zu diesem Haus hatte er nicht viel gesagt, nur aus dem regennassen Fenster gestarrt und ihr ab und zu abwesend zugelächelt. Mary beeilte sich, seinem Befehl Folge zu leisten
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