Stadt des Schweigens
seine Stimme gekannt hätte. Und er hätte sich auch nicht mit vollem Namen, als Hunter Stevens, gemeldet und ihr nicht seine Telefonnummer gesagt.
Nachdenklich ging sie die Bücherkiste durch. Meist handelte es sich um Western. Ihr Vater hatte eine Vorliebe für dieses Genre gehabt. Er hatte die Geschichten so schnell verschlungen, dass die Verlage nicht mit dem Drucken nachgekommen waren.
Ihre Mutter hatte auch gelesen, allerdings nicht mit solchem Eifer. Das Buch, das sie am häufigsten zur Hand genommen hatte, war ihr Tagebuch gewesen. Ständig hatte sie es mit sich herumgeschleppt und alle Ereignisse eingetragen.
Ihre Mutter hatte davon geträumt, Schriftstellerin zu werden. Das hatte sie ihr anvertraut, ehe sie zum College abgereist war. Sie hatten sich damals gestritten, weil sie Cypress Springs und Matt verlassen wollte.
Seinerzeit hatte sie ihrer Mutter nicht geglaubt, aber inzwischen war sie nicht mehr so sicher.
Sie erinnerte sich genau an die Szene. Ihre Mutter hatte ihren Berufswunsch in dem Zusammenhang erwähnt, dass man die richtigen Entscheidungen im Leben treffen müsse. Automatisch hatte sie von ihrer Tochter erwartet, dass sie genau wie sie das traditionelle Leben der Südstaatenfrau führen würde, als Ehefrau und Mutter, die freiwillige Gemeindearbeit leistete. Sie hatte erwartet, dass sie sich dieselben Prioritäten setzte.
Einen Traum zu verfolgen gehörte ebenso wenig dazu wie eine berufliche Karriere anzustreben.
Ihre Mutter hatte sie gedrängt, Matt zu heiraten und eine Familie zu gründen, und darauf hingewiesen, dass es sie ja auch nicht geben würde, wenn sie selbst, anstatt ihren Vater zu heiraten und Mutter zu werden, Karriere gemacht hätte.
Ihr Nacken schmerzte, und sie rieb sich mit der Hand die verspannte Stelle. Die damalige Unterhaltung war in einem hässlichen Streit geendet.
Du bist den Weg des geringsten Widerstandes gegangen, Mom. Du hast dich eingerichtet und gefügt. Das werde ich nicht tun. Und dann später: Du hast mich nie geliebt, Mom. Nicht um meiner selbst willen. Du hast immer versucht, mich zu ändern, damit ich werde wie du. Nun ja, das hat nicht geklappt.
Zerknirscht dachte sie jetzt an diese Vorwürfe und das Entsetzen ihrer Mutter. Sie hatte die Worte nie zurückgenommen, sich nie entschuldigt.
Und dann war es zu spät gewesen.
Heute bedauerte sie das schmerzlich. Sie dachte an Hunters Bemerkung, ihr Vater habe geglaubt, der schwelende Streit mit der Mutter sei der Grund gewesen, weshalb sie so selten heimgekommen war. Vielleicht stimmte das sogar. Möglicherweise hatte sie ihre Eltern so selten besucht, weil sie wusste, wie sehr sie ihre Mutter gekränkt hatte, und ihr daher nicht in die Augen sehen wollte?
Sie hat ständig ihr Tagebuch dabeigehabt und alle Ereignisse aufgeschrieben.
Natürlich! Die Tagebücher ihrer Mutter mussten hier irgendwo sein. Zweifellos hatte sie auch über den Tod von Sallie Waguespack geschrieben und über die Auswirkungen des Mordes auf die Gemeinde und ihren Mann, falls er damit in Verbindung stand.
Wo konnten die Bücher sein? Avery hatte bereits alle Schränke und Kommoden im Haus geleert und kein Tagebuch gefunden. Was hatte ihr Vater damit gemacht?
Sie konnten eigentlich nur hier oben sein. Nun begann sie ernsthaft zu suchen. Sie überprüfte nicht nur die Aufschriften der Kisten, sondern öffnete sie auch, um zu sehen, ob Etikett und Inhalt übereinstimmten.
Als sie den letzten Karton in Angriff nahm, war sie erhitzt, schmutzig und enttäuscht. Sollte ihr Vater alles weggeworfen haben? Oder die Mutter vielleicht noch selbst vor ihrem Tod?
Vielleicht wusste Lilah etwas darüber. Avery sah auf die Uhr und lief hinunter zum Telefon. Sobald sie die Nummer der Stevens’ gewählt hatte, meldete Lilah sich bereits.
„Hallo, Lilah, ich bin es, Avery.“
„Avery, was für eine nette Überraschung. Was machst du heute Morgen?“
„Ich packe im Haus einige Sachen zusammen. Dabei ist mir aufgefallen, dass Moms Tagebücher fehlen.“
„Ihre Tagebücher? Meine Güte, stimmt ja. Ich hatte ganz vergessen, dass sie immer Tagebuch geschrieben hat.“
„Mir war es auch entfallen. Bis heute Morgen.“
„Eine Zeit lang war sie ganz besessen davon. Erinnerst du dich an den Sonntag, als sie das Tagebuch während Pastor Dastugues Predigt hervorgeholt hat? Wir saßen alle in der ersten Reihe, und er war hocherfreut.“ Lilah lachte leise. „Er dachte, sie notiert sich seine Predigt.“
„Was soll das heißen, sie war
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