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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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mit bedrückenden Erinnerungen quälte.
    Als er schließlich weitererzählte, bebte seine Stimme leicht. „Eines Morgens verlor ich an einer Grundschule die Kontrolle über mein Auto. Die Kinder waren in der Pause. Mein Fenster war geöffnet. Ich hörte ihr Gelächter und die Freudenschreie und dann ihr entsetztes Schreien. Ich fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit und krachte durch den Zaun des Spielplatzes. Ich konnte nichts tun, außer zusehen. Die Kinder stoben auseinander, aber ein Junge stand wie angewurzelt da … und ich konnte nicht reagieren.“
    Er bedeckte die Augen mit einer Hand, als könnte er sich so vor der Erinnerung schützen. „Eine Lehrerin warf sich auf ihn und schob ihn aus der Gefahrenzone. Ich traf sie. Sie flog auf die Kühlerhaube und gegen die Windschutzscheibe.“ Er presste die Augen zusammen, das Gesicht von Schmerz verzerrt. „Es war ein Wunder, dass sie nicht getötet wurde. Nur ein paar gebrochene Rippen und Abschürfungen. Dafür danke ich meinem Schöpfer jeden Tag. Der Zaun und ein Baum, den ich streifte, bremsten mein Tempo ab. Trotzdem, wenn ich den Jungen getroffen hätte, wäre er umgekommen.“
    Er sah sie an, mit Tränen in den Augen. „Sie kam zu mir. Zu mir, dem Mann, der … sie hat mir verziehen und mich aufgefordert, das Wunder zu nutzen, das da passiert sei, um mein Leben zu ändern.“
    Avery betrachtete ihn schweigend. Er hatte sein Leben geändert, das war offenkundig, ohne dass er es sagte. Das Buch zu schreiben war Teil dieses Veränderungsprozesses, genauso wie die Rückkehr nach Cypress Springs. Er war an den Ursprung zurückgekommen, um nach vorn gehen zu können.
    „Ich frage mich immer wieder, ob dieser Junge noch unbefangen auf einen Spielplatz gehen kann. Oder ob die Kinder nachts schreiend aufwachen und das Entsetzen noch einmal durchleben. Mir geht es jedenfalls so. Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht erinnere, ihre Gesichter sehe und ihre Schreie höre.“
    „Das tut mir Leid, Hunter“, sagte sie leise.
    „Du siehst, ich bin sowohl Klischee als auch Abschreckungsgeschichte. Der betrunkene Fahrer, der in einen Schulhof voller Kinder rast. Ich bin genau der Typ, von dem Anwälte wie ich behaupten, dass es ihn nicht gibt.“
    Er sagte das voller Sarkasmus und fuhr dann fort: „Ich wurde wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss und Gefährdung im Straßenverkehr angeklagt. Der Richter schickte mich zur Entziehung und zog meinen Führerschein für zwei Wochen ein. Er belegte mich mit einer lächerlich geringen Strafe und wies mich an, hundert Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten.“
    Falls jemand umgekommen wäre, hätte man ihn wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, und er wäre ins Gefängnis gegangen.
    Hunter steckt bereits in einem Gefängnis. „Seither habe ich keinen Tropfen mehr angerührt“, beendete er seine Beichte. „Und ich hoffe, es bleibt dabei.“
    Sie tastete nach seiner Hand und schlang die Finger darum.
    „Matt liebt dich immer noch.“
    Avery wollte ihm widersprechen, doch er unterbrach sie. „Es stimmt. Er hat nie aufgehört, dich zu lieben.“ „Warum erzählst du mir das?“
    „Ich habe Matt heute Morgen herausgefordert, mich zu schlagen. Und das Kranke daran ist, es hat mir Vergnügen bereitet, dazu fähig zu sein. Ist das nicht pervers?“
    „Du bist gar nicht so übel.“ Sie lächelte schwach. „Jedenfalls bist du nicht so schlimm, wie du denkst.“
    Er drehte ihr den Kopf zu und sah sie an. „Lauf weg, Avery. Ich bin nicht gut für dich.“
    „Vielleicht sollte ich das besser selbst entscheiden.“
    Hunter verzog den Mund zu einem Lächeln, das nicht seine Augen erreichte. „Das ist riskant. Wir wissen beide, dass du keine gute Menschenkennerin bist.“
    „Tatsächlich?“ Sie setzte sich auf, gespielt beleidigt. „Tatsächlich bin ich eine ziemlich gute Menschen… Du blutest schon wieder.“
    „Wo?“ Er setzte sich und versuchte, über die Schulter zu sehen.
    „Hier.“ Sie streckte sich, nahm einige Papiertücher aus dem Kästchen auf dem Nachttisch und tupfte das Blut ab, das unter der Bandage am linken Schulterblatt herauslief. Darunter war der hässlichste Schnitt.
    Avery kletterte aus dem Bett, das Laken wie eine Toga um sich gewickelt. „Dad hat bestimmt noch ein paar Mullkompressen in seinem Bad.“ Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Bleib, wo du bist.“
    „Ja, Schwester Chauvin.“
    Barfuß ging sie den Flur entlang zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Die Tür stand auf, und ihr Blick fiel

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