Stadt des Schweigens
und mit einem Elektroschockgerät außer Gefecht gesetzt worden war. Man hatte ihn in die Garage gebracht und angezündet. Brennend hatte er noch versucht, sich zur Tür zu schleppen, doch es war zu spät gewesen.
Lange hatte er Avery in den Armen gehalten, während sie sich ausweinte.
Ihr Weinen war ihm zu Herzen gegangen, und er hatte sie zu trösten versucht, indem er ihre Theorie zerpflückte. Warum sollte jemand ihren Vater umbringen, welches Motiv könnte er haben?
Doch das hatte alles nichts geholfen, und so hatte er sie nur umarmt, bis ihre Tränen versiegten. Dann hatte er sie zu Bett gebracht, und sie waren zusammen eingeschlummert.
Hunter schlug die Decke zurück und stand auf. Nachdem er seine Jeans angezogen hatte, machte er sich auf die Suche nach Avery.
Er fand sie in der Küche. Sie stand am Spülbecken und blickte durch das darüber liegende Fenster. Das schnurlose Telefon lag auf dem Küchentisch, daneben ein Stenoblock und eine gefaltete Zeitung.
Sie ist schon eine Weile auf.
Leise ging er zu ihr. Sie trug einen weißen, in der Taille gegürteten Bademantel, in dem sie fast versank, was ihre zierliche Statur noch betonte. Mit ihrem kurzen Jungenhaarschnitt und dem zarten Gesicht sah sie aus wie ein Kind, das sich die Sachen der Mutter ausgeborgt hat.
Wer sie wegen ihrer grazilen Gestalt unterschätzte, beging jedoch einen Riesenfehler. Sie hatte einen scharfen Verstand und eine Entschlossenheit, die an Starrköpfigkeit grenzte. Er hatte sie dafür immer bewundert, auch wenn sie sich auf etwas versteifte, was seiner Ansicht nach keinen Sinn ergab.
Schon in der Schule hatte er ihren Charakter geschätzt und ihren Sinn für Fairness. Sie hatte sich den Tyrannen entgegengestellt, sich um die Unbeliebten gekümmert und sich mit den Neuen in der Klasse und den Außenseitern angefreundet. Das hatte sie nicht sonderlich populär gemacht, was ihr jedoch meistens gleichgültig gewesen war.
Er musste zugeben, dass er ihre Stärke bewundert hatte.
Ein bisschen war er schon immer in sie verliebt gewesen.
Unwillkürlich fragte er sich, ob sie sich seiner auch nur annahm, weil er ein Außenseiter war.
Jetzt bemerkte sie seine Gegenwart und sah ihn an, ein kaum merkliches Lächeln auf den Lippen. „Es gibt ein Gewitter.“
Er stellte sich neben sie. Der Wind hatte aufgefrischt, und dunkle Wolken jagten über den Abendhimmel. „Es ist Frühling, wir brauchen den Regen.“
„Vermutlich.“
Sanft strich er ihr über die Wange. „Alles in Ordnung?“ „So leidlich.“ Sie schmiegte die Wange in seine Hand. „Hungrig?“
„Und wie. Wir könnten uns was bestellen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe Eier und Käse.“
„Klingt nach einem Omelette.“
Sie teilten sich die Arbeit und stritten gut gelaunt über die Zutaten. Zwiebeln waren out, Peperoni in. Pilze waren ein Muss, dazu viel Käse und ein wenig Cayennepfeffer.
„Den Toast mache ich“, bot er an.
„Ich habe englische Muffins im Kühlschrank.“
„Noch besser.“ Er holte sie zusammen mit Orangensaft und Butter heraus. Nachdem er sie geteilt und in den Toaster gegeben hatte, nahm er Geschirr, Besteck, Gläser und Servietten aus den Schränken.
Er trug alles zu dem Eichentisch und schob Telefon und Zeitung beiseite. Dabei fiel ihm auf, dass es die Gazette war, in der über den Tod ihres Vaters berichtet wurde. Stirnrunzelnd blickte er auf den Stenoblock. Darauf stand eine Liste mit Namen und jeweils einem Datum daneben. Pat Greene, Sal Mandina, Pete Trimble, Kevin Gallagher, Dolly Farmer. Auch der Name ihres Vaters stand da, und ganz zum Schluss Trudy Pruitt.
„Was ist das?“
„Etwas, an dem ich arbeite.“
„An dem du arbeitest? Das sieht nach einer Liste von Leuten aus, die gestorben sind in …“
„In den letzten acht Monaten“, beendete sie seinen Satz. „Hier in Cypress Springs.“
Sie hätte die Liste zweifellos nicht hergelegt, wenn sie nicht gewollt hätte, dass er sie sah. „Es geht dir darum, was Trudy Pruitt gesagt hat, richtig? Dass dein Dad mit dem Fall Sallie Waguespack zu tun hatte.“
Avery drehte das Omelett um. „Ja. Und um die Zeitungsausschnitte, die ich in seinem Schrank gefunden habe. Und um zwei Morde und zwei verschwundene Leute in den letzten sechs Wochen. Und um eine Gruppe, die sich Die Sieben nennt.“
Er furchte die Stirn. „Ich kann dir das wohl nicht ausreden, oder?“
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. „Nein.“
Entschlossen bis zur Starrköpfigkeit. Sie bleibt dran,
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