Stadt des Schweigens
ihr.
Sie verblüfft mich. Ich stecke ihr eine Spange ins Haar, und wenn ich nicht hinsehe, reißt sie sie wieder heraus.
Heute hat Avery den ersten Preis im Aufsatzwettbewerb des Bezirks gewonnen. Sie hat ihren Aufsatz in der Klasse vorgelesen, und ich habe meine Tränen verborgen. Ihr Talent ist atemberaubend. Ich lächle in mich hinein und denke: Das hat sie von mir. Das ist mein Geschenk an meine wertvolle Tochter.
Avery wischte sich die Tränen von den Wangen und las weiter, diesmal aus dem Tagebuch von 1986.
Sie bricht mir täglich das Herz. Weiß sie denn nicht, dass ich ihr alles Beste der Welt wünsche? Weiß sie nicht, wie viel Angst ich habe, sie zu verlieren?
Und etwas später schüttete sie ihr Herz aus.
Ich habe sie verloren. Wir beide haben nichts gemeinsam. Sie wendet sich immer an ihren Dad. Sie lachen zusammen und teilen alles miteinander. Ich denke oft, ich habe einen Riesenfehler gemacht. Wenn ich meine schriftstellerischen Ambitionen weiter verfolgt hätte, hätten wir eine Gemeinsamkeit. Vielleicht würde sie mich dann nicht ansehen, als wäre mein Leben nutzlos und vergeudet gewesen.
Avery wählte den letzten Band, 1990, das Jahr, in dem sie die High School abschloss.
Wo habe ich Fehler gemacht? Wie ist es möglich, dass wir uns so fremd geworden sind? Sie verlässt Cypress Springs. Ich habe sie angefleht zu bleiben. Im Lichte meiner eigenen Entscheidungen, meiner Fehler und Irrtümer habe ich sie gebeten. Ich habe ihr meine Träume anvertraut, aber es ist zu spät.
Avery schloss das Buch mit zittrigen Händen und hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Sie hatte ihrer Mutter vorgeworfen, sie nicht zu lieben, und das Gegenteil war richtig gewesen.
Sie hatte ihr vorgeworfen, sie verändern zu wollen, dabei hatte ihre Mutter sie für ihre Eigenständigkeit bewundert.
In Wahrheit hatte auch ihre Mutter sich nicht gefügt, weder den Eltern noch dieser Stadt oder ihrer Tochter.
Mutter und ich, wir waren uns sehr ähnlich.
Schmerzlich berührt presste sie die Lippen zusammen. Sie bedauerte zutiefst, die Tagebücher nicht früher gelesen zu haben. Warum war sie nicht über den eigenen Schatten gesprungen?
Sie hatte es tun wollen und die Kränkung ihrer Mutter bedauert. Doch anstatt ihrem Gefühl nachzugeben, hatte sie sich von ihrem Stolz leiten lassen, absolut überzeugt, im Recht zu sein. Sie hatte aus der Ferne ihr Selbstmitleid gepflegt und es versäumt, Zeit mit ihren Eltern zu verbringen. Jetzt war es zu spät.
Die Zeit mit ihnen konnte sie nicht nachholen. Aber es war nicht zu spät für Gerechtigkeit für Sallie Waguespack oder die Pruitt-Brüder.
Sie fand das entsprechende Tagebuch und blätterte die Seiten bis zur Eintragung vom 19. Juni durch, dem Tag nach Sallie Waguespacks Ermordung.
Die arme Frau, und auch noch schwanger. Es ist zu schrecklich.
Dann beschrieb ihre Mutter Alltäglichkeiten.
Avery runzelte die Stirn. Der Spürsinn der Reporterin war geweckt. Schwanger? In keinem Bericht über den Mord war das erwähnt worden. Avery blätterte vor, um einen weiteren Hinweis zu finden. Vergeblich.
Konnte sich ihre Mutter geirrt haben? Nein, unwahrscheinlich. Woher hatte sie die Information?
Vielleicht von ihrem Ehemann, dem örtlichen Arzt für Allgemeinmedizin. Vielleicht war er Sallie Waguespacks Arzt gewesen. Wahrscheinlich sogar. Vermutlich hatte Philip Chauvin es gewusst und es seiner Frau gesagt.
Aber warum hatte man der Öffentlichkeit diese Information vorenthalten?
Avery las weiter, und ihr Puls beschleunigte sich, als sie zu ahnen begann, dass alle Antworten, die sie suchte, in den Worten ihrer Mutter zu finden waren.
Philip war heute sehr schweigsam. Er hat große Sorgen, möchte aber nicht darüber reden.
Und dann später:
Philip und Buddy haben sich gestritten. Sie reden nicht mehr miteinander, und es schmerzt mich, dass so gute Freunde wegen so einer Geschichte auseinander gerissen werden.
Wegen so einer Geschichte? überlegte sie. Sallie Waguespacks Ermordung? Hatten sie in diesem Fall unterschiedliche Meinungen vertreten?
Sie fand keine weitere Erwähnung des Streites der beiden Männer oder der Mordermittlungen bis zu einer Passage, die ihr den Atem stocken ließ.
Buddy hat sich auf etwas eingelassen … auf eine Gruppe. Es sind sieben. Ein Geheimbund. Ich habe gehört, wie er Philip überreden wollte, auch beizutreten.
Avery hielt inne und ordnete ihre Gedanken. Buddy ein Mitglied der ursprünglichen Sieben? Und er hatte ihren Vater zum
Weitere Kostenlose Bücher