Stadt des Schweigens
die Anfrage ihres Redakteurs über den Fortgang der Story ausweichend beantwortet hatte, beschloss sie, die restlichen E-Mails später zu erledigen.
Die Zeit verstrich quälend langsam. Alle paar Minuten sah Avery zur Uhr. Nach fast einer Stunde hielt sie es nicht länger aus.
Mit schnurlosem Telefon und Handy bewaffnet stieg sie die Treppe hinauf. In der ersten Etage fiel ihr Blick auf die gerahmten Fotos an den Wänden, die sie immer scherzhaft die Ruhmeswände ihrer Eltern genannt hatte.
Wie oft war sie daran vorbeigegangen, ohne sie wirklich anzuschauen. Sie hatte sich nie bewusst gemacht, dass sie auf fast jedem Foto zu sehen war, was den Stolz und die Liebe ihrer Eltern bewies. Beides hatte sie als selbstverständlich hingenommen.
Sie blieb stehen und sah rechts auf ein Foto mit ihr als Kleinkind. Die ersten Schritte, dachte sie und betrachtete ihre am Boden kniende Muter, die mit ausgebreiteten Armen auf sie wartete, lockend und ermutigend.
Ihr Blick schweifte weiter. Baby-, Schul- und Ferienfotos. Und auf vielen war ihre Mutter mit stolzem, auf sie gerichtetem Blick zu sehen.
Avery schaute noch einmal auf das Babybild mit ihrer knienden Mutter und betrachtete deren Gesicht. Eigentlich hatte sie ihre Mutter kaum richtig gekannt und nichts von ihren Hoffnungen, Träumen und Erwartungen gewusst. Ihre Mutter wäre gern Schriftstellerin gewesen, hatte sie gesagt, ihr jedoch nie einen Text von sich zu lesen gegeben.
Die Schuld für ihr distanziertes Verhältnis hatte sie immer bei der Mutter gesucht, aber vielleicht lag sie bei ihr. Sie hatte sich mehr dem Vater angeschlossen. Ihn zu lieben, war sehr leicht gewesen.
Genau genommen war sie selbst den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. Sie hatte sich mit einem Elternteil begnügt, anstatt sich auch um den anderen zu bemühen. Wenn sie doch nur die Tagebücher finden könnte. Darin kämen Herz und Seele ihrer Mutter zum Ausdruck. Sie würde etwas über ihre Überzeugungen und Wünsche erfahren, über ihre Enttäuschungen und Ängste. Es wäre die Gelegenheit, die Mutter doch noch kennen zu lernen.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater die Tagebücher weggeworfen hatte. Und auch ihre Mutter hätte das wohl nicht getan, auch wenn sie nicht mehr weitergeschrieben hatte.
Die Bücher mussten hier irgendwo sein. Von neuem Eifer beflügelt, stieg sie zum Dachboden hinauf, immer mit dem Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief. Noch einmal sah sie gründlich alles hier Gelagerte durch und entdeckte die Tagebücher schließlich in dem Karton, der ihre Puppensammlung enthielt. Ihre Mutter hatte die Puppen für sie gekauft und gesammelt und gegen ihren Willen auf dem Regal in ihrem Kinderzimmer aufgereiht.
Die Tagebücher waren ordentlich chronologisch geordnet und gebündelt. Das erste stammte aus dem Jahr 1965, da war ihre Mutter siebzehn gewesen. Das letzte aus dem Jahr 1990. Wie Lilah gesagt hatte, hatte ihre Mutter im August des Jahres, als sie, Avery, zur Universität gegangen war, mit dem Schreiben aufgehört.
Avery fuhr mit dem Zeigefinger über die ordentlich datierten Buchrücken und verharrte bei Januar bis Juni 1988.
Hier finde ich alles über Sallie Waguespacks Tod und Dads Verwicklungen in die Sache, dachte sie hoffnungsvoll, während ihr Herz schneller schlug.
Vielleicht entdeckte sie sogar Hinweise auf die Gründung der Sieben.
Doch es gab persönliche Fragen, die sie ein halbes Leben lang geplagt hatten, die sie zuerst klären wollte. Deshalb zog sie als Erstes das Buch mit Datum 1965 aus seiner Hülle. Sallie Waguespack musste warten.
Avery begann zu lesen und erfuhr von einem Mädchen aus streng traditionellem Elternhaus und seinem Traum, eine Schriftstellerkarriere zu machen. Sie las, dass ihre Mutter eine leidenschaftliche Frau gewesen war, die auf ihre Weise gegen die strenge Erziehung im Elternhaus rebelliert hatte.
Durch die Worte ihrer Mutter erlebte Avery, wie diese Philip Chauvin kennen und lieben gelernt hatte, wie sie sich verlobten und heirateten, erfuhr vom ersten Mal, als sie miteinander geschlafen hatten, und von ihrer, Averys, Geburt.
Sie atmete tief durch und merkte, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.
Ihre Mutter hatte viel aufgegeben, um Ehefrau und Mutter zu sein.
Und im Gegenzug hatte sie Erfüllung in ihrer Mutterrolle gefunden. Mit Stolz schrieb sie über die Entschlossenheit und Eigenwilligkeit ihrer Tochter. Dass sie anders war als die anderen und nur nach der eigenen Pfeife tanzte, imponierte
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