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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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Hunter.“
    „Nein. Es war Mutter. Sie schluchzte hysterisch und war voller Blut. Es war ihr auf Hände, Gesicht und Kleidung gespritzt. Ich geriet in Panik, weil ich dachte, sie sei verletzt. Dann wurde mir allmählich bewusst, was sie erzählte. Sie hatte jemanden umgebracht. Dads Freundin. Seine Geliebte. Es war ein Unfall gewesen, und sie wusste nicht, was sie tun sollte.“
    Avery stellte sich die Szene plastisch vor. Lilah blutbefleckt und hysterisch. Matt, erst sechzehn, voller Entsetzen und fassungslos, was seine Mutter erzählte.
    „Ich wusste es auch nicht. Dad war nicht da. Ich wusste nicht genau, wo er war. Und das Department konnte ich nicht anrufen. Also bin ich hingegangen. Es war genauso, wie Mom gesagt hatte. Mit einer Ausnahme – die Frau war nicht tot. Sie muss für einen Augenblick bewusstlos geworden sein. An der Blutspur sah ich, dass sie danach, in der Zeit zwischen Moms Weggang und meiner Ankunft, versucht hatte, sich zur Tür zu ziehen. Sie hat es nicht geschafft. Denn sie konnte sich nicht hochziehen und die Tür öffnen.“
    Nach kurzem Überlegen fuhr er fort: „Zuerst wollte ich ihr helfen. Ich wollte sie überreden, die ganze Angelegenheit zu verschweigen und niemandem von Mom zu erzählen. Sie hat nur gelacht. Sie hat mich ausgelacht und gefragt, wie es mir gefallen würde, wenn Dads Bastard meinen Platz einnähme. Die Familie würde zum Gespött der Leute, sagte sie und nannte mich dumm, Avery. Mich. Und die ganze Zeit blutete sie sich die Seele aus dem Leib, am Rande der Bewusstlosigkeit.“ Er schnaubte verächtlich. „Als hätte sie etwas zu sagen gehabt.“
    „Sie wollte nicht die Klappe halten“, fügte er nach kurzer Pause hinzu. „Ich bettelte und weinte, aber sie lachte mich nur aus und sagte hässliche Dinge. Also habe ich ihr den Mund gestopft. Ich habe ihr die Hände über Mund und Nase gelegt und so lange gepresst, bis sie nichts mehr gesagt hat.“
    Avery dachte fröstelnd an ihre Befürchtung von vorhin, Matt könnte sie erwürgen.
    „Es war ein gutes Gefühl“, sagte er leise, und ein Lächeln zuckte um seinen Mund. „Ich fühlte mich mächtig und unschlagbar.“
    Er beugte sich vor. „Macht, Avery, sie liegt in meinen Händen. Ich wusste immer, dass ich etwas Besonderes bin. Ich sah und verstand Dinge, die normale Leute nicht kapierten. Während ich ihr beim Sterben zusah, wusste ich, dass mir eine Führungsrolle zugedacht war, dass ich Macht über Leben und Tod hatte.“
    Entsetzt starrte Avery ihn an. Ihr Mund war trocken, das Herz schlug ihr bis zum Hals. In jenem Sommer waren sie zusammen gewesen – intim. Sie hatten sich jeden Tag gesehen. Sie hatte sogar erwogen, ihr Leben mit ihm zu verbringen.
    Sie hätte geschworen, ihn wirklich zu kennen.
    Ich hatte keine Ahnung, wer er ist.
    Schließlich fand sie ihre Stimme wieder, doch sie klang brüchig. „Also wusste mein Dad, dass …“
    „Dass ich sie umgebracht habe? Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Buddy fand mich dort und versprach mir, mich zu schützen und sich um alles zu kümmern. Er sagte, ich solle sofort verschwinden und alles für mich behalten.“
    „Und er hat es nie erzählt, stimmt’s? Nicht mal Lilah.“
    Er grinste. Wie er dabei die Zähne bleckte, wirkte entsetzlicher, als würde er sie anknurren. „Er wollte mich retten. Das ist doch lächerlich, was? Der wollte mich retten. Aber im Laufe der Jahre hat Dad seinen Zweck erfüllt. In gewisser Weise habe ich seine Visionen geteilt.“
    In einem blitzartigen Gefühlsumschwung füllten sich seine Augen mit Tränen. „Wir hätten eine Familie sein können, Avery. Wir hätten Kinder haben können und wären zusammen alt geworden.“
    Dass sie genau das vor nicht allzu langer Zeit noch erwogen hatte, machte sie krank. Sie verbarg ihre wahren Gefühle, so gut es ging. „Es ist noch nicht zu spät, Matt. Lass mich gehen. Ich mache keinen Ärger. Wir können zusammen sein.“
    Kurz wandte er den Blick ab und sah sie dann wieder an. „Tut mir wirklich Leid, Avery. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt. Aber im Konfliktfall müssen die Wünsche des Einzelnen zum Wohl des Ganzen geopfert werden.“
    Einen Moment hielt sie entsetzt den Atem an. „Es ist noch nicht zu spät. Ich kann mich ändern. Ich verstehe jetzt, wofür du kämpfst.“
    Er neigte sich herab und presste ihr einen harten, festen Kuss auf die Lippen. Ein Kuss, der etwas Endgültiges hatte. „Es geht nicht um mich, Avery. Es geht nicht um meine Gefühle oder Wünsche.

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