Stadt des Schweigens
Wärme gegangen und das Gefühl, eine Familie zu sein.
Avery presste die Lippen zusammen, als sie sich vorstellte, wie schwer es ihm gefallen sein musste, die Sachen ihrer Mutter wegzuräumen und dann jede Nacht in dieses kalte Zimmer zu kommen. Sie hatte ihm Hilfe beim Ausräumen angeboten, aber vielleicht zu halbherzig. Möglicherweise hatte er gespürt, dass sie gar nicht nach Hause kommen wollte.
Ich habe mich schon darum gekümmert, Liebes. Du musst dir keine Gedanken machen.
Also hatte sie es nicht getan, und das schmerzte jetzt. Sie kam sich klein und schäbig vor. Sie hätte hier sein müssen. Mit einem Blick zum großen Doppelschrank fragte sie sich, ob ihr Vater getan hatte, was auch ihr jetzt bevorstand? Sie gab sich einen Ruck und betrat das Zimmer. Es roch nach dem würzigen Aftershave ihres Vater. Als Kind auf seinem Schoß hatte sie oft das Gesicht in seinen Pulli gedrückt und den Geruch tief eingesogen. Dabei hatte sie sich wohl und behütet gefühlt.
Manchmal hatte er die Bartstoppeln an ihrer Wange gerieben, und sie hatte sich quiekend gewunden – und ihn gebeten, ihr mehr Bartküsse zu geben.
Sie verdrängte diese liebevollen Erinnerungen, weil sie ihr das Herz nur schwerer machten, als es ohnehin schon war.
Langsam öffnete sie den Schrank. Zwei Anzüge, drei Sportsakkos, ein halbes Dutzend Hemden, Strickhemden, ein paar Krawatten, Gürtel und Schuhe. Zwei Hüte für Sommer und Winter und ein zugeklebter Karton.
Die Kleidung ihrer Mutter war entfernt worden.
Sie stellte den Karton auf den Boden und wandte sich der Kommode zu. In der Münzschale lagen die Eheringe ihrer Eltern nebeneinander. Dad hatte offenbar gewollt, dass sie zusammen waren, und hatte seinen Ring neben ihren gelegt, ehe …
Blind vor Tränen wandte sie sich ab, nahm den Karton und eilte aus dem Raum. Sie lief die Treppe hinunter, ließ im Foyer den Karton fallen und riss die Haustür auf, um frische Luft zu bekommen.
Nach einigen tiefen Atemzügen wurde sie ruhiger. Sie hatte gewusst, dass es nicht leicht werden würde, aber sie hatte nicht geahnt, dass es so wehtat.
Ein Hupen unterbrach sie in ihren Gedanken. Sie sah zur Straße und erkannte Mary Dupre, eine langjährige Nachbarin. Sie stellte den Wagen ab, stieg aus und eilte mit wippenden grauen Locken die Zufahrt hinauf.
Bei Avery angelangt, schloss sie sie sofort in die Arme. „Es tut mir so Leid, Liebes.“
Avery drückte sie. „Danke, Mary.“ Die Anteilnahme und das Mitgefühl ihrer Nachbarin rührten sie sehr.
„Ich wünschte, ich wäre zu Buddy oder Pastor Dastugue gegangen. Aber ich hab’s nicht getan, und dann war es zu spät.“
„Zu Buddy oder Pastor Dastugue? Weswegen?“
„Ich wollte ihnen sagen, wie seltsam sich dein Daddy benahm. Er verließ das Haus nicht mehr und ließ den Garten verwildern. Ich wollte ihn besuchen und ihm etwas von meinem Hähnchen Gumbo bringen, aber er hat die Tür nicht aufgemacht. Ich wusste, dass er zu Hause war. Ich dachte, er würde schlafen, aber auf dem Rückweg sah ich ihn neben der Gardine hervorspähen.“
Bedrückt stellte Avery sich das bizarre Bild vor. Es passte so gar nicht zu dem Vater, den sie kannte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hatte keine Ahnung, Mary. Wir haben oft miteinander gesprochen, aber er hat nie etwas gesagt.“
„Armes Baby.“ Mary drückte sie noch einmal. „Ich bringe dir später etwas zu essen vorbei.“
„Das ist nicht nötig.“
„Ist es wohl“, entschied sie. „Du musst essen, und du sollst keine Mühe mit dem Kochen haben.“
Dankbar gab Avery nach. „Das ist sehr umsichtig von dir.“ „Wie ich sehe, bin ich nicht die Erste.“ „Wie bitte?“
Sie deutete auf einen Korb auf der Schwelle neben der Tür. Avery nahm ihn auf. Er enthielt selbst gebackenes Rosinenbrot und eine Beileidskarte. Avery überflog die herzlichen Worte, und wieder traten ihr Tränen in die Augen.
„Ich wette, das ist von Laura Jenkins.“ Mary bezog sich auf die Frau von nebenan. „Sie backt das beste Rosinenbrot in der Gemeinde.“
Avery nickte und schob die Karte ins Kuvert zurück. „Planst du einen Gottesdienst?“
„Ich treffe mich heute Nachmittag mit Danny Gallagher.“
„Er macht gute Arbeit. Wenn du Hilfe brauchst, womit auch immer, ruf mich an.“
Avery versprach es, da das Angebot ehrlich gemeint war. Die großzügige Freundlichkeit, die ihr hier entgegenschlug, war ungemein tröstlich.
Sie sah Mary nach, wie sie die Zufahrt hinuntereilte, ein leuchtender
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