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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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erste Fall und der schlimmste.“
    Er zögerte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. „Doch die Probleme begannen schon vor ihrer Ermordung. Eigentlich, seit wir wussten, dass Old Dixie Foods südlich von hier eine Konservenfabrik eröffnen wollte. Die Gemeinde war deswegen sehr gespalten. Etliche sahen in der Ansiedlung einen Fortschritt und einen Wandel hin zu wirtschaftlichem Wohlstand. Geschäfte, die gerade mal so ihr Auskommen hatten, würden endlich prosperieren und Gewinn abwerfen. Andere sagten den Untergang einer Lebensart voraus, die Jahrhunderte überdauert hatte und im gesamten Süden allmählich verschwand. Als Beispiele nannten sie andere Städte, die sich durch den Einfluss des Großkapitals zum Schlechten verändert hatten.“
    Er legte seine großen Hände flach auf den Schreibtisch. „Das Thema wurde heiß diskutiert. Freundschaften zerbrachen, Beziehungen am Arbeitsplatz waren gestört und Familien gespalten. Ich gebe zu, dass ich zu denen gehörte, die geblendet waren von der Aussicht auf Wirtschaftswachstum. Die negativen Begleiterscheinungen wollte ich nicht sehen.“
    „Und die waren?“
    „Der Zustrom von fünfhundert Mindestlohnarbeitern, die meisten davon männlich. Es mussten Wohnungen gebaut und soziale Unterstützungssysteme geschaffen werden, damit sie hier leben konnten. Dadurch bedingt veränderten sich die sozialen und moralischen Strukturen der Gemeinde.“
    „Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, was du meinst.“
    „Die Einwohner dieser Stadt glauben an Gott und die Familie, in der modernen Welt ein ziemlicher Anachronismus. Die Familie steht an erster Stelle, und sonntags geht man in die Kirche. Wir leben nach den Geboten Gottes und den goldenen Sittenregeln der Bibel. Lass ein paar Hundert allein stehende Männer am Freitagabend mit Geld in den Taschen auf die Straße los, und was glaubst du, passiert?“
    Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, und die hatte nichts mit den goldenen Sittenregeln der Bibel zu tun. „Und mein Vater? Wo stand er in diesem Disput?“
    Buddy sah sie mit gefurchter Stirn an. „Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, er erkannte die Nachteile. Er war ein kluger Mann, klüger als ich, das ist mal sicher.“ Nach einem Moment fügte er hinzu: „Letztlich hatte die Stadt wenig Einflussmöglichkeiten. Die Fabrik wurde gebaut, und Geld floss nach Cypress Springs. Die Stadt wuchs, und die schlimmsten Befürchtungen wurden wahr.“
    Er stand auf und wandte sich dem Fenster hinter seinem Schreibtisch zu. Versonnen blickte er hinaus, obwohl es außer einer Sackgasse und der Rückseite des Gerichtsgebäudes nichts zu sehen gab.
    „Ich liebe diese Stadt“, sagte er, ohne Avery anzusehen. „Ich bin hier aufgewachsen, habe meine Kinder hier großgezogen und werde wohl auch hier sterben. In diesen vier Monaten damals 1988 habe ich das einzige Mal daran gedacht, wegzuziehen.“ Er drehte sich zu ihr um. „Die Kriminalitätsrate stieg. Ich meine damit ernste Verbrechen, die wir hier nie gekannt haben. Vergewaltigungen, bewaffnete Überfälle, Prostitution, mein Gott.“ Resigniert atmete er durch. „Natürlich passierte das alles nicht über Nacht. Es kam schleichend. Mal hier ein Verbrechen, dann dort. Zuerst nannte ich das Zufälle. Aber diese Zufälle häuften sich. Schließlich veränderten sich auch andere Dinge in der Gemeinde. Die Zahl der Teenagerschwangerschaften stieg, ebenso die Scheidungsrate. Plötzlich hatten wir in der High School Probleme wie sonst nur in der Großstadt: Alkohol, Drogen, Gewalt.“
    Sie erinnerte sich an Schlägereien und dass ab und zu mal jemand beim Potrauchen in der Toilette erwischt worden war. Aber sie war von alledem irgendwie isoliert gewesen.
    „Das muss schwierig für dich gewesen sein.“
    „Die Bürger hatten Angst und wurden zornig, weil sich die Stadt in einen Ort verwandelte, den sie nicht mochten. Und natürlich ließen sie ihre Wut an mir aus.“
    „Hatten sie das Gefühl, du tust nicht genug?“
    Er nickte. „Damals steckte ich tief in der Klemme. Ich hatte weder das Personal noch die Erfahrung, gegen die wachsende Kriminalität anzugehen. Bis dahin hatten wir es mit Verkehrsvergehen, einer gelegentlichen Wirtshauskeilerei und kleinen Diebstählen zu tun, wenn Kinder mit klebrigen Fingern Kaugummi mopsten. Dann wurde Sallie Waguespack getötet.“
    Er kehrte zu seinem Sessel zurück und ließ sich schwer hineinfallen. „Diese Stadt wurde hysterisch. Der Mord war grauenvoll. Die Frau

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