Stadt des Schweigens
zwei, wenn sie die Frau hinzunahm, die Hunter in der Gasse gefunden hatte. Konnten beide vom selben Täter umgebracht worden sein?
Kaum wahrscheinlich, musste sie zugeben und spürte ihr Herz schneller schlagen. Aber es war ebenso unwahrscheinlich wie die Annahme, dass es in Cypress Springs gleich zwei Morde gegeben haben könnte.
Wer sollte den Tod ihres Vaters gewollt haben, der von allen geliebt und respektiert worden war?
Nein, nicht von allen. Er hatte Feinde gehabt, wie der Anruf der Frau bewies. Und offenbar hatte sie selbst auch Feinde.
Er hat gekriegt, was er verdiente.
Und du kommst auch noch dran.
Avery ging zum Vorderfenster, zog den Vorhang beiseite und blickte auf die dunkle Straße. Ein paar Wagen parkten am Straßenrand, alle schienen menschenleer zu sein.
Jedenfalls so weit sie sehen konnte, und das war nicht allzu weit.
Besorgt fragte sie sich, ob die Frau vielleicht schon früher versucht hatte, sie zu erreichen, als sie noch nicht da gewesen war? Möglich. Ihr Vater hatte weder einen Antwortdienst noch einen Anrufbeantworter. Vielleicht beobachtete diese Frau sie sogar oder lag auf der Lauer. Sie konnte überall sein, sogar in der nächsten Telefonzelle.
Werde nicht paranoid, Chauvin. Das hier ist wie eine deiner Storys. Hol dir Informationen und setze sie zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammen.
Avery ließ den Vorhang los und ging zur Küche. Ein Blick zur Wanduhr zeigte ihr, dass es 1 Uhr 27 in der Nacht war. Sie holte Schreibblock und Stift aus der Schublade beim Telefon und legte beides auf den Tresen.
Während der Kaffee durchlief, versuchte sie sich zu erinnern, was sie über Mordermittlungen wusste. Sie war nie als Kriminalreporterin tätig gewesen, hatte jedoch einiges an Informationen aufgeschnappt, als sie mit einem Kollegen aus diesem Bereich ein sehr kleines Büro teilen musste. Er war von der eifrigen, aufgeblasenen Sorte gewesen, der gern die eigene Stimme hörte und aus irgendeinem Grund der abartigen Einschätzung anhing, Tatortdetails wirkten auf Frauen wie ein Aphrodisiakum.
Wer hätte gedacht, dass sie einmal dankbar sein würde für jene vier langen Monate auf engstem Raum. Vielleicht würde ihr, was sie dabei gelernt hatte, jetzt nützlich sein.
Die Kaffeemaschine gurgelte, als die letzten Tropfen durchliefen. Sie füllte sich einen Becher, trug ihn auf einem Tablett zusammen mit Block und Schreibstift zum großen Eichentisch und setzte sich.
Falls es hier um Mord ging, war ihr Vater offensichtlich keinem zufälligen Gewaltakt zum Opfer gefallen. Damit blieb nur Mord aus Leidenschaft oder vorsätzlicher geplanter Mord. Der eifrige Pete, ihr Partner aus dem Minibüro, hatte Liebe, Hass und Gier die heilige Dreifaltigkeit der Mordmotive genannt. Was bedeutete, dass die meisten Killer aus einem dieser drei Gründe handelten.
Avery führte den Becher an den Mund und trank einen Schluck, wobei ihre Hand leicht zitterte. Ob aus Erschöpfung oder Nervosität, konnte sie nicht sagen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihr sanfter, freundlicher Vater mit irgendetwas in Verbindung stand, das zu Mord führte.
Sie schloss die Augen. Hör auf, in Schubladen zu denken. Lös dich von allem, was du zu wissen glaubst.
Besorg dir die einzelnen Stücke des Puzzles und setze es zusammen.
Langsam öffnete sie die Augen und nahm den Schreibstift. Als Erstes musste sie so viel wie möglich über den Tod ihres Vaters herausfinden. Sie würde mit Ben Mitchell, mit dem Gerichtsmediziner und mit Buddy über die Ermittlungen reden.
Und währenddessen musste sie sich, so gut es ging, über den Mord an Elaine St. Claire informieren, um festzustellen, ob es eine Verbindung zwischen den Fällen gab.
Später an diesem Morgen suchte Avery Ben Mitchell im Büro der staatlichen Feuermarschalls in Baton Rouge auf. Sie fand heraus, dass Brandexperten nach Regionen eingesetzt und aufgeteilt wurden. Cypress Springs gehörte zu Region acht. Sie erfuhr sogar, dass Brandexperten Waffen tragen durften und das Recht hatten, verdächtige Brandstifter festzunehmen.
Ben Mitchell, ein Mann mittleren Alters mit dunkelbraunen, leicht angegrauten Haaren, war so ein Experte.
Er begrüßte sie freundlich. „Setzen Sie sich, Miss Chauvin.“
Sie nahm ihm gegenüber Platz, legte ihren Notizblock auf den Schoß und sagte lächelnd: „Bitte, nennen Sie mich Avery.“
Er akzeptierte es mit einem leichten Neigen des Kopfes. „Ihr Dad war ein guter Mann.“
„Sie kannten ihn?“
„Ich denke,
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