Stadt des Schweigens
Whiskey in der Traktorkabine gefunden. Sein Blutalkoholspiegel war enorm hoch.“
„Und was war mit Dolly Farmer? In der Gazette stand, sie hat sich aufgehängt. Nach allem, was ich gelesen habe, hatte sie doch alles, wofür es sich zu leben lohnt.“
„Ihr Mann war mit seiner jungen Sekretärin durchgebrannt. Das hat die Gazette nicht geschrieben.“
„Und was war mit Sal?“
„Jemand, der nicht mit einem Gewehr umgehen konnte, hat ihn erschossen. Irgendein Sonntagsjäger verwechselte ihn mit einem Stück Wild. Als er seinen Irrtum erkannte, flüchtete er.“
„So viele Tote, Buddy!“ Sie hörte selbst ihren hysterischen Unterton. „Wie kann es plötzlich so viele Tote geben?“
„So ist das Leben, Kleines“, tröstete er leise. „Menschen sterben nun mal.“
„Aber so viele, so tragisch, in so kurzer Zeit!“
Er nahm ihre Hände und drückte sie. „Hättest du einen dieser Unfälle für sonderbar gehalten, wenn nicht die Sache mit deinem Vater passiert wäre? Wäre dir ohne die Fantasiegebilde einer trauernden Frau einer dieser Todesfälle verdächtig vorgekommen?“
Meinst du mit dieser Frau Gwen Lancaster oder mich?
Mein Gott, wie weit bin ich gegangen?
Sie bekämpfte ihre Tränen, doch eine rollte ihr über die Wange.
Buddy zog sie an sich und legte seine starken Arme um sie. „Gwen Lancaster trauert. Ihr Bruder ist verschwunden und sehr wahrscheinlich tot. Sie tut mir wirklich Leid. Ich weiß, wie schmerzlich es ist, den besten Freund zu verlieren. Wie muss sie sich da erst fühlen.“
Er wich ein kleines Stück zurück und sah ihr in die Augen.
„Trauernde glauben manchmal an Dinge … oder steigern sich in etwas hinein, was einfach nicht stimmt. Sie versuchen so, den Schmerz über den Verlust zu dämpfen, das eigene Handeln zu rechtfertigen oder die eigene Schuld abzumildern. Vertraue den Menschen, die du liebst und die dich lieben. Nicht irgendeiner Frau, die du kaum kennst.“
Er wischte ihr mit dem Daumen die Träne von der Wange. „Das hier ist eine kleine Stadt, Avery. Die Menschen sind schnell aufgebracht. Hör auf, dich wie die knallharte Reporterin aus der Großstadt aufzuführen, oder sie vergessen, dass du eine von uns bist und behandeln dich wie eine Fremde. Das willst du doch nicht, oder?“
Verwirrt erkannte sie, dass seine sanft gesprochenen Worte deutlich nach einer Drohung klangen. Das war eine Warnung, aufzuhören und sich zu fügen. „Ich verstehe nicht. Soll das heißen …?“
„Das war nur ein freundschaftlicher Rat, Kleines, mehr nicht. Ich wollte dich lediglich daran erinnern, wie die Leute hier draußen so sind.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und ließ sie los. „Du gehörst zur Familie, Avery. Und ich möchte nur, dass du glücklich bist.“
32. KAPITEL
Nachdem Buddy fort war, stand Avery noch eine Weile an der Haustür. Wie betäubt starrte sie ins Leere und ließ sich durch den Kopf gehen, was Buddy gesagt hatte.
Sie musste sich ernsthaft fragen, ob sie Gwens Anschuldigungen überhaupt Gehör geschenkt hätte, wenn sie nicht durch den Tod des Vaters in einem seelischen Ausnahmezustand gewesen wäre. Sals Tod war einer dieser fürchterlichen Unfälle, die einen fragen ließen: warum nur? Dolly Farmer war das Opfer einer sich auflösenden Beziehung, und Pete Trimble gehörte in die Trunkenheitsstatistik.
Doch was glaubte sie selbst eigentlich? Sie rieb sich die schmerzenden Schläfen. Wie hatte sie sich so leicht beeinflussen lassen können? Sie unterstellte den Bürgern von Cypress Springs Konspiration und Mordgelüste und war vielleicht nur von einer psychisch labilen Frau aufgehetzt worden. So etwas sah ihr überhaupt nicht ähnlich, denn sie ging stets nüchtern an Fakten heran, traf ihre Entscheidungen und plante sorgsam die nächsten Schritte.
Avery ließ die Hände sinken. War das der Anfang eines Nervenzusammenbruchs? Eine leichte Verwirrung, ein Tränenausbruch, wachsende Unentschlossenheit und das Gefühl unterzugehen?
Da ihr bewusst wurde, dass sie die Arbeit der Klimaanlage torpedierte, schloss sie die Tür und ging in die Küche zurück. Ihr Blick fiel auf Buddys fast leeres Wasserglas.
Was wollte sie überhaupt?
Sie wollte den Menschen ihrer Umgebung trauen, und zugleich wollte sie nicht glauben, dass ihr Vater Selbstmord begangen hatte. Darin lag ihr Konflikt.
Das Telefon klingelte. Sie wandte sich ihm zu, ohne den Hörer abzunehmen. Es läutete neunmal, dann wurde aufgelegt, doch gleich darauf klingelte es
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