Stadt des Schweigens
wieder. Jemand wollte offenbar dringend mit ihr reden.
Sie hatte schon einmal einen Anruf nicht angenommen – und dann war es zu spät gewesen.
Sie hechtete zum Apparat und nahm den Hörer auf. „Hallo?“ „Avery? Hier ist Gwen.“
Nein, nicht ausgerechnet jetzt! Sie bezwang den Drang, den Hörer auf die Gabel zu knallen.
„Ich habe gerade Ihre Nachricht erhalten. Ich war in New Orleans bei meiner Mutter.“ Sie machte eine Pause. „Avery? Sind Sie noch da?“
„Ja, ich bin hier.“
„Wir sollten uns so schnell wie möglich treffen. Wann können Sie …“
„Tut mir Leid, Gwen. Ich kann im Moment nicht.“ „Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Ja, falls es in Ordnung ist, kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen. „Sicher. Es … es ist nur kein günstiger Zeitpunkt.“ „Sind Sie allein?“
Avery spürte Gwens Sorge um sie und konnte sich denken, was sie vermutete. „Ja.“
„Sie klingen merkwürdig.“
„Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.“
„Einen Fehler? Ich verstehe nicht.“
„Ich kann da nicht mitmachen. Ich fühle mit Ihnen, Gwen. Ich weiß, wie schwer es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber ich kann nicht auf Grund Ihrer weit hergeholten Anschuldigungen aktiv werden.“
„Weit hergeholt? Aber …“
„Es tut mir Leid.“
„Ich bin ganz allein. Ich brauche Ihre Hilfe!“ beschwor sie Avery mit erhobener Stimme. „Bitte helfen Sie mir, den Mörder meines Bruders zu finden!“
Avery kniff die Augen zusammen. Die Verzweiflung und der Schmerz in Gwens Stimme gingen ihr unter die Haut.
Vertraue den Menschen, die du liebst und die dich lieben.
„Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Gwen. Mir bricht fast das Herz, wenn ich an Sie denke, aber …“
„Bitte, ich habe sonst niemanden!“
Sie merkte, wie sie in ihrem Entschluss schwankte, und wappnete sich vor ihrem Mitgefühl. „Ich kann jetzt wirklich nicht darüber reden, tut mir Leid.“
Avery legte auf und atmete zitternd tief durch. Sie hatte das Richtige getan. Schmerz verzerrte die Realität, sowohl Gwens Schmerz wie auch ihrer. Gwen hatte ihre ganze Energie auf diese Verschwörungstheorie gerichtet, um ihr Leid zu lindern und nicht trauern zu müssen.
Und ihr ging es nicht viel anders.
Wieder läutete das Telefon. Gwen, um mich zu überreden. So gern sie dieser Frau auch ausgewichen wäre, sie musste sich ihr stellen. Das war die Bedingung, um wieder vernünftig zu werden.
Sie nahm den Hörer auf und begann ohne Einleitung: „Hören Sie, Gwen, ich weiß nicht, wie deutlich …“
„Wie fühlt man sich als Tochter eines Lügners und Mörders?“
Ihr Atem entwich zischend. „Wer spricht da?“
„Jemand, der die Wahrheit kennt“, erwiderte die Frau und lachte unangenehm auf. „Und es gibt nicht mehr viele von uns. Wir sterben wie die Fliegen.“
„Sie sind eine Lügnerin!“ wetterte Avery. „Mein Vater war ein Ehrenmann. Der ehrlichste Mensch, der mir je begegnet ist. Er war kein Feigling, der Angst hatte, sein Gesicht zu zeigen.“
„Ich bin kein Feigling. Du …“
„Und ob Sie ein Feigling sind, wenn Sie sich hinter Lügen und anonymen Telefonanrufen verstecken und einen Mann beschuldigen, der sich nicht wehren kann.“
„Und was ist mit meinen Jungs?“ schrie sie. „Sie konnten sich auch nicht wehren, und es war allen egal!“
„Ich weiß nicht, wer Ihre Jungs sind, also kann ich dazu nichts sagen.“
„Waren!“ korrigierte sie böse. „Sie sind tot, alle beide. Und Ihr Vater ist einer der Schuldigen.“
Avery musste sich beherrschen, um ihn nicht automatisch zu verteidigen. Sie wollte kühl bleiben und die Frau provozieren, damit sie sich zu erkennen gab. „Wenn Sie einen Beweis hätten, dass mein Dad ein Mörder war, würden Sie sich nicht hinter anonymen Telefonaten verstecken. Wenn ich die Namen Ihrer Söhne kennen würde, wäre ich vielleicht eher geneigt zu glauben, dass Sie keine bemitleidenswerte Irre sind.“
„Donny und Dylan Pruitt!“ spie sie aus. „Sie haben Sallie Waguespack nicht umgebracht. Sie kannten sie nicht mal.“
Der Waguespack-Mord.
Mein Gott, der Karton mit den Zeitungsartikeln!
Averys Hand begann zu zittern, und sie umklammerte den Hörer fester. „Was hatte mein Vater damit zu tun? Was wollen Sie mit Ihren Anschuldigungen sagen?“
„Dein Dad hat geholfen, den wahren Täter zu decken“, stieß die Frau zornig aus. „So viel zum ehrlichsten Menschen, der dir je begegnet ist.“
„Das ist nicht wahr! Sie lügen!“
„Warum,
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