Stadt, Land, Mord - Granger, A: Stadt, Land, Mord - Mud, Muck and Dead Things
Eltern?«
Er wurde aufdringlicher. »Sie haben sich damit abgefunden.«
Was nicht stimmte. Ihr Vater gab sich stoisch, doch das bedeutete nicht, dass es ihm nichts ausmachte oder er sich nicht sorgte. Ihre Mutter sorgte sich ununterbrochen. Jess sorgte sich ebenfalls. Simon war ihr Zwilling.
»Warum fragen Sie?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage, in dem Versuch, die Unterhaltung wieder an sich zu reißen. Sie war schließlich diejenige, die hinter dem Schreibtisch saß. Sie war die Ermittlerin, sie leitete das Verhör, sollte es erforderlich werden. Dieser junge Mann ihr gegenüber war ein Zeuge und möglicherweise ein Verdächtiger. Noch während sie dies dachte, kam ihr ein weiterer unerwünschter Gedanke. Er muss schon Ende zwanzig sein, auch wenn er aussieht, als wäre er gerade erst aus dem Teenageralter heraus.
Jones war krank gewesen, und manchmal bewirkte eine Krankheit eine unerwartete Veränderung des äußeren Erscheinungsbilds, nicht nur Gewichtsverlust und Veränderung der Haarfarbe oder -dichte, sondern auch Alterung oder – in Jones’ Fall – das Gegenteil. Er war nur ein paar Jahre jünger als sie selbst, doch sie musste sich diese Tatsache immer wieder ins Gedächtnis rufen. Er ist kein Junge mehr. Er ist ein Mann.
Julia Jones hingegen sah ihren Sohn bestimmt nicht als Mann. Ihr panischer Anruf beim Familienanwalt hatte das gezeigt.
David beobachtete sie währenddessen unablässig, und sie überkam ein eigenartiges Gefühl, als würde er ihre Gedanken lesen. Ich darf ihn nicht unterschätzen! , sagte sie sich. Er hat Medizin studiert und gelernt, Symptome zu lesen und herauszufinden, was ein Patient vor ihm verbarg oder selbst überhaupt noch nicht wusste. Jede noch so kleine verräterische Spur: das Zucken eines Muskels, die Textur der Haut, die nervösen Hände, alles erzählte ihm eine Geschichte. Es gab eine Reihe von Parallelen zu ihrer eigenen Ausbildung. Einen Zeugen zu beobachten war nichts anderes als einen Patienten zu studieren. Sie hatte David Jones studiert, seit er sie auf dem Parkplatz angesprochen hatte. Er hatte seinerseits sie studiert. Ihre Unruhe nahm zu.
»Ich bin ein Einzelkind«, sagte er unvermittelt, und sein Verhalten war plötzlich so viel entspannter, dass es Jess genauso deutlich spürte, als hätte sich die Raumtemperatur geändert.
»Sie meinen, dass sich Ihre Mutter aus diesem Grund stärker um Sie sorgt?«
»Das zum einen«, räumte er ein. Inzwischen sprach er beinahe so, als rede er über eine andere Person und nicht über sich selbst. Die Vernehmung war plötzlich zu einer Konferenz geworden. Er und sie unterhielten sich wie Gleichgestellte, wie Kollegen, die über eine schwierige Diagnose diskutierten. »Zum anderen denke ich, es liegt daran, dass Eltern, die nur einen einzigen Nestling haben, von diesem erwarten, dass er hoch fliegt, wirklich richtig hoch, wenn er flügge wird. All ihre Hoffnungen und Sehnsüchte ruhen in diesem einen menschlichen Wesen. Dieses eine Kind muss etwas erreichen, oder sie haben als Eltern versagt.«
»Das würde ich nicht so sehen!«, widersprach Jess energisch. Was bildete sich dieser Kerl ein? Eben noch ein nervenkranker Zeuge und jetzt ein Dr. Freud?
»Oh doch, glauben Sie mir«, sagte Jones ironisch. Er bückte sich, um seinen Helm aufzuheben. »Ich muss wieder zurück zum Foot to the Ground . Auf mich wartet Arbeit und auf Sie ganz bestimmt auch.«
»Ich brauche Sie trotzdem noch für eine schriftliche Aussage wegen des silbernen Wagens«, erinnerte sie ihn. »Ich bringe Sie zu Detective Constable Stubbs, und Sie können ihm alles erzählen. Es dauert nicht lang, keine Sorge.«
»Also schön, einverstanden«, sagte er großzügig. Sämtliche Anspannung war von ihm gewichen wie die Luft aus einem Reifen. Die Sitzung auf der Couch des Psychotherapeuten war erfolgreich gewesen.
Ich frage mich, ob ich den falschen Beruf ergriffen habe, dachte Jess.
»Wir können diesen jungen Mann nicht von der Liste der Tatverdächtigen streichen«, sagte Carter, nachdem er Jess’ Bericht zu Ende angehört hatte. »Er ist psychisch instabil, und er war trotz aller gegenteiligen Beteuerungen besessen von diesem Mädchen. Er sagt, er habe sich hinter dieser Hecke versteckt, um zu sehen, wer Eva abholt, weil er sich Sorgen um sie gemacht habe. Doch das ist die übliche Ausrede bei Stalkern. ›Ich wollte ihr nichts tun. Ich habe in ihrem besten Interesse gehandelt, weil ich mir Sorgen gemacht habe‹ – diesen und ähnliche
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