Stadt unter dem Eis
schwindlig. Das sieht nicht gut aus, sagte er sich, überhaupt nicht gut. Seine Körpertemperatur sank. Bald würde der Kältetod eintreten. Er würde das Bewusstsein verlieren, und sein Herz würde aufhören zu schlagen. Es sei denn, er unternahm etwas.
Er tastete nach dem Sicherheitsgurt, aber seine Finger ließen sich nicht bewegen. Die rechte Hand war am Sitz festgefroren. Die Fingerkuppen wiesen weiße Frostbeulen auf. Die Blutgefäße hatten sich verengt, und das Gewebe starb langsam ab.
Conrad ließ seinen Blick durch das Cockpit schweifen und bemühte sich, nicht in Panik zu geraten. Mit der tauben linken Hand, die von einem Handschuh geschützt wurde, griff er nach der Thermosflasche hinter Lundstroms Leiche. Er hantierte daran herum, bis der Verschluss aufsprang. Dann goss er sich den heißen Kaffee über die rechte Hand. Er löste die dampfende Hand vom Sitz und betrachtete die verbrannte Handfläche, die blutig und voller Blasen war. Er war von der Kälte so betäubt, dass er keinen Schmerz empfand.
Er schleppte sich zum Kopiloten und horchte an dessen Mund. Er atmete, aber nur noch kaum. Beim Navigator dasselbe. Hinten stöhnten Soldaten.
Conrad griff nach dem Sendegerät. »Hier sechs-neun-sechs«, sprach er hastig ins Mikrofon. »Das ist ein Notruf. Wir fordern Hilfe.«
Keine Antwort. Er regulierte die Frequenz.
»Sechs-neun-sechs hier, ihr Scheißkerle«, rief er.
Welche Frequenz er auch einstellte, er kam nicht durch. Nach einigen Minuten ergebnislosem Zischen war die Leitung schließlich ganz tot.
Ihm wurde klar, dass niemand mehr seinen Hilferuf empfangen würde.
Auf der vergeblichen Suche nach einem Ersatzgerät arbeitete er sich durch die Trümmer des Cockpits. Irgendwo mussten sie doch ein Funkfeuer haben oder auch ein satellitengestütztes Notfunksystem. Es sei denn, Lundstrom und seine Mannschaft wollten in so einem Fall gar nicht gefunden werden.
Das Einzige, was er entdeckte, und zwar in seinem Gepäck, war ein Leuchtstab. Als ob der ihm jetzt etwas nutzte.
Welch erbärmliche Art zu sterben, dachte er, als er den Leuchtstab ansah. Da überlebt man nun einen Flugzeugabsturz, nur um ›Eis am Stiel‹ zu werden. Mein Gott, wie er die Kälte hasste. Schon als kleines Kind hatte er sie gehasst, und im Schnee zu sterben war das Allerletzte, was er wollte. Für ihn würde das bedeuten, sich nicht so weit von zu Hause entfernt zu haben, wie er sich immer erhofft hatte. Und er würde sich niemals mit seinem Vater versöhnen können.
Ironie des Schicksals?, dachte er, während er die Temperatur auf seiner Multisensoren-Uhr ablas. Das Digitalthermometer zeigte minus acht Grad Celsius an. Er stutzte, sah genauer hin und merkte, dass er eine Ziffer übersehen hatte. Es waren minus 88 Grad.
Conrad sank zu den anderen auf den Boden und spürte, wie seine Augenlider schwer wurden. Er versuchte mit aller Kraft, wach zu bleiben, aber vergebens. Er drohte in Ohnmacht zu fallen.
Plötzlich erzitterte der Boden, und er glaubte ein Bellen zu hören. Er öffnete die Augen, schleppte sich zu seinem Rucksack und schaffte es, ihn sich über die Schulter zu hängen. Dann tastete er mit langsamen Handbewegungen nach seinem Leuchtstab und ließ sich durch ein Loch im Rumpf aufs Eis fallen.
Der Aufschlag weckte ihn aus seinem Tran.
Conrad kam schwankend wieder auf die Beine und blickte über die Eiswüste. Nichts war zu sehen. Außer dass es jetzt noch heftiger schneite. Auf einmal tauchte ein riesiges Zugfahrzeug aus dem Nebel auf.
Es sah wie einer dieser großen schwedischen Hägglunds aus. Die beiden Kabinen aus Fiberglas waren miteinander verbunden. Das Fahrzeug bewegte sich auf Gummibändern, die breite Waffelspuren im Schnee hinterließen.
Conrad brach den Leuchtstab und wedelte mit ihm in der Luft. Seine Arme fühlten sich schwer an, und er spürte nicht, dass er den Stab in der Faust hielt.
Der Hägglunds kam durch den Schnee gepflügt und blieb vor ihm stehen. Bei der vorderen Kabine öffnete sich eine Tür. Ein weißer Husky sprang heraus und lief an Conrad vorbei zu dem Wrack. Conrad hörte ein Klirren. Eine große Gestalt mit weißen Stiefeln tauchte aus dem Hägglunds auf und stieg die Sprossen der kleinen Leiter herab auf das Packeis.
An der hoch aufragenden Gestalt und den knappen, sparsamen Bewegungen erkannte Conrad, dass es sein Vater war. In dem weißen Polaranzug, die Schutzbrille gegen den blendenden Schnee mit Kohle beschmiert, ging Yeats steif und mit großen Schritten, die im
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