Stadt unter dem Eis
dann sind die Fallen unten in der P4 und in den Gängen, die nach oben zu den wichtigen Kammern führen.«
Serena sah über Conrads Schulter hinweg Yeats an, der die Stirn entweder aus Besorgnis oder – was weitaus wahrscheinlicher war – aus Ungeduld runzelte. Lopez, Kreigel und Marcus, die neben ihm standen, blickten so steinern drein wie zuvor.
»Dann machen wir uns am besten mal auf den Weg«, sagte Serena und trat in den Schacht.
***
Wie sich bald herausstellte, sollte Conrad mit dem Oreichalkos Recht behalten. Kaum betrat man den Schacht, änderte sich bereits die Wandoberfläche und wurde rauer. Sie bestand aus einem dunkleren Gestein oder Metall. Serena kletterte tiefer in den Schacht und hielt das Seil dabei straff. Das Licht ihrer Stirnlampe drang nur etwa zwanzig Meter tief in die Dunkelheit.
»Wie geht's da unten?« Im Schacht klang Yeats' Stimme flach und blechern.
»Prima«, antwortete sie.
Aber sie fühlte sich gar nicht so. Die Luft war drückend und stickig. Die feuchten Wände schienen sich über ihr immer mehr zu schließen, je weiter sie den 38 Grad geneigten Schacht hinunterkroch. Sie spürte ein Kribbeln im Rücken, das langsam die Wirbelsäule hinaufstieg.
Zwanzig Minuten später tauchten sie aus dem Schacht in einen saalartigen rötlichen Raum, der bei aller Düsternis ungeheure Wärme und Kraft ausstrahlte. Er war völlig leer.
»Hier ist nichts, Conrad.« Ihre Stimme hallte wider. »Keine Inschriften. Nichts.«
»Sei dir da mal nicht so sicher.«
Sie drehte sich um und sah, wie Conrad sich an der Wand, aus der der Schacht kam, abseilte, gefolgt von Yeats und seinen drei Untergebenen.
Conrad suchte den Raum mit seinem Scheinwerfer ab. Boden, Decken und Wände bestanden aus riesigen Steinquadern, die wie Granit aussahen. Der Raum war größer als ein Fußballfeld; Serena schätzte die Höhe auf sechzig Meter. Trotzdem hatte sie das Gefühl, die Wände würden sie erdrücken.
»Das ist nun wirklich mal eine megalithische Architektur in Reinkultur«, bemerkte Conrad und ließ den Lichtstrahl über die Decke schweifen. »Allein die Transporttechnik für die großen Steinblöcke muss phänomenal gewesen sein.«
Was die Architektur angeht, da hat Conrad Recht, dachte Serena. Sie gab einiges über die Erbauer preis. Das war etwas, das sie auch an der Linguistik faszinierte. Sprache versuchte oft, eine bestimmte Bedeutung zu verstecken oder sie irgendwie zu manipulieren. Aber gerade dadurch enthüllte sie das Wesentliche der Zivilisation, die hinter dem betreffenden Artefakt steckte.
Hier waren allerdings keine Inschriften zu entdecken. Nichts. Selbst bei den unergiebigsten Ausgrabungen fand man normalerweise einen Gegenstand, der etwas über das jeweilige Volk aussagte. Eine Tonscherbe, eine Figur. Solche Funde waren mehr als Artefakte. Sie stammten von Menschen mit Gefühl und Verstand. Damals, als ihr Vater, der Priester, gestorben war und sie seine persönlichen Sachen durchsah, stieß sie dabei auf die belanglosesten Dinge, die ihr aber dennoch etwas über ihre eigene Vergangenheit mitteilten.
Hier fühlte sie diese Verbindung nicht. Nichts. Nur gähnende Leere und Kälte. Nicht einmal einen Sarkophag: einen Sarg, der – wenn ihre Erinnerung an die ägyptischen Pyramiden sie nicht im Stich ließ – in der westlichen Ecke dieser Kammer hätte stehen müssen. Ein Grab wäre immerhin für einen Menschen gebaut worden. Dieser Ort aber war kalt und abweisend.
»Ich sehe keine anderen Schächte. Du hast doch gesagt, wir finden noch einen. Aber hier gibt es nicht mal Türen. Wir kommen nicht weiter.«
»Hier.« Conrad leuchtete zur Südwand, wo sich ein weiterer Gang befand. Er sah genau so aus wie der, aus dem sie gerade gekommen waren.
»Der führt sowieso nur ins Packeis«, sagte Serena.
Conrad sah genauer hin und nickte. »In der Cheopspyramide soll der Südgang den toten Pharao zu seinen Binsenbooten geführt haben, mit denen er sein Königreich auf Erden durchfuhr. Durch den Nordschacht erreichte er die Sterne im himmlischen Königreich.«
»Schön und gut. Aber wo ist hier der Sarg mit dem toten Pharao?«
Conrad ging zur Mitte des Raums. Seine Schritte hallten umso lauter, je weiter er sich dorthin bewegte.
»Was hast du vor?«
»Wenn hier nichts zu finden ist, müssen wir eben den Raum selbst untersuchen.« Conrad ging weiter zur Westwand und schaute von dort aus nach Osten. Er zog einen Gegenstand aus der Tasche, der wie ein Stift aussah, und ließ dann einen
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