Stadtfeind Nr.1
doch nicht gut tun.«
»Oh, ich bitte dich«, sagt er stirnrunzelnd. »Sieh mich bitte an, ja? Es ist ein bisschen spät, um sich jetzt noch Abstinenz zum Prinzip zu machen, meinst du nicht?« Waynes Redeweise hat einen neuen Unterton, etwas, was ich aus unserer Jugend nicht in Erinnerung habe, einen schneidenden Faden resignierter Verbitterung, der in seinen Humor gewebt ist.
»Ist es wirklich so schlimm?«, frage ich und verbessere mich dann rasch. »Ich meine, ist die Krankheit wirklich so weit fortgeschritten?«
»Der letzte Countdown.« Die Bemerkung und der dazugehörige Gesichtsausdruck lassen den ersten Kratzer im Lack seiner scheinbaren Unbesorgtheit erkennen. Wir teilen uns ein trauriges, tröstliches Schweigen, spüren die tiefe Verbundenheit alter Freunde, die eine Tragödie gemeinsam nüchtern zur Kenntnis nehmen. Ich stoße einen hörbaren Seufzer aus und wünsche mir, ich hätte von Natur aus etwas mehr Ausdruckskraft in mir, und Wayne seufzt ebenfalls und wünscht sich vermutlich, er hätte doch bloß kein Aids.
»Das tut mir wirklich leid, Mann«, sage ich. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
Er nickt und zieht die Haustür auf. »Du kannst dir ja unterwegs etwas einfallen lassen.«
Wir treten in die gedämpften Pastelltöne der Vorstadtdämmerung hinaus. Die Zikaden sind schlafen gegangen, die Grillen haben ihr Konzert noch nicht angestimmt, und ich halte vor der Haustür einen Augenblick inne und atme die Gerüche des frisch gemähten Rasens und des abkühlenden Asphalts und den leisen Hauch von Geißblatt tief in mich ein. Auf einmal überflutet mich eine Welle von Wehmut nach meiner Jugend und dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin.
»Hast du was vergessen?«, sagt Wayne von den Stufen.
»Viel«, sage ich verwirrt.
Sein Lächeln drückt telepathisches Verständnis aus.
»Willkommen zu Hause, mein Freund.« Er zeigt auf den Mercedes. »Ich nehme an, dieses obszöne Statussymbol gehört dir?«
»Leider ja.«
»Ausgezeichnet«, sagt er und macht die Beifahrertür auf. »Dann wollen wir mal sehen, was es so kann.«
Auf Waynes Geheiß fahre ich hinaus auf die Pinfield Avenue, ein trostloses Stück Landstraße, das sich still und leise um Bush Falls schlängelt, und trete das Gaspedal durch. Der Mercedes brummt mit mythischer Kraft, als ich die Nadel auf über neunzig hochjage. Auf der Beifahrerseite lässt Wayne sein Fenster ganz herunter, um den harten, peitschenden Wind hineinzulassen, und schließt lächelnd die Augen, während der Wind an seinem Kopf rüttelt und die noch an ihm haftenden Reste seines Haars komisch nach hinten bläst. »Oh, ich bitte dich!«, brüllt er über den vereinten Lärm des Motors und des Windes. »Das ist doch noch nicht alles.«
Ich schüttele den Kopf über ihn und trete noch fester aufs Gaspedal. Die Nadel krabbelt über einhundert, und jetzt können wir jede Vertiefung und jeden Kieselstein in dem abgefahrenen Asphalt der alten Straße spüren. Ich umklammere das Lenkrad fester und denke mir, das kann nichts Gutes bringen. Wayne auf dem Beifahrersitz wirkt noch entkräfteter, und ich merke, wie ich mir irrationalerweise Sorgen mache, der Druck des Windes könnte seine hauchdünne Haut glatt von seinen zerbrechlichen Knochen reißen. »Schneller«, sagt er.
»Du bist nicht einmal angeschnallt.«
Er wendet sich zu mir um und lächelt ironisch. »Das ist eines der wenigen Vorrechte meines Zustands«, sagt er und brüllt dann mit einem übertriebenen mexikanischen Akzent: »Wir brauchen keine stinkenden Gurte nicht!«
Die Bäume fliegen in einem grünen Nebel an uns vorbei, während die Reifen des Mercedes über den Asphalt jagen. Die Nadel wippt jetzt um einhundertfünfzehn, das Schnellste, was ich je gefahren bin, soweit ich mich erinnere. Wir schießen durch die Nacht, Wayne und ich, zwei verlorene, einsame Seelen, die auf ihren Sitzen vibrieren wie zwei Kolben, während wir mit geborgter Kraft über die Straße jagen und die Luft sich vor uns im grellen Xenonlicht der tiefen Scheinwerfer verzweifelt in letzter Minute teilt. Und vielleicht geht es ja gar nicht um die Geschwindigkeit selbst; vielleicht geht es um die Zeit und darum, sie einzuholen, sie zu überholen und für eine kleine, verdammte Weile einfach alles ein bisschen zu verlangsamen. »Schneller!«, grölt Wayne jauchzend. »Du Weichei!« »Du hast wirklich einen ganz üblen Einfluss auf mich«, sage ich.
»Komm schon«, stachelt er mich an. »Weswegen machst du dir denn
Weitere Kostenlose Bücher