Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten
viele Anrufe rein, daß wir zu zweit gut zu tun haben.«
»Haben die denn alle vor … sich umzubringen?«
»Nein. Nach einiger Zeit durchschaust du auch die Dauerkunden.«
»Die Dauerkunden?«
»Verrückte. Einsame. Anrufer, die nur reden wollen. Das geht natürlich auch klar. Schließlich sind wir für so was da. Und bei manchen genügt’s, wenn man sie an die richtige soziale Einrichtung weiterschickt.«
»Wer gehört in die Gruppe?«
»Geschlagene Ehefrauen, schwule Teenager, alte Leute mit Fragen zur Sozialversicherung, Kinderschänder, Vergewaltigungsopfer, Minderheiten mit Wohnungsproblemen …« Er rasselte die Liste runter wie ein Verkäufer in einer Howard-Johnson-Eisdiele, der die achtundzwanzig verschiedenen Sorten aufzählt.
»Und was ist mit den Selbstmördern?«
»Ach so … von denen kriegen wir pro Abend vielleicht zwei oder drei rein.«
»Weißt du, ich hab nie eine spezielle Ausbildung …«
»Kein Problem. Um die haarigen Fälle kümmere ich mich. Die meisten wollen bloß deine Zuwendung.«
Mary Ann trank ein paar Schluck Kaffee. Vincents unaufgeregtes Selbstvertrauen gab ihr Kraft. »Die Arbeit hier gibt einem sicher recht viel, was?«
Vincent zuckte mit den Schultern. »Manchmal schon. Und dann ist es wieder der totale Nerv. Kommt immer drauf an.«
»Hat es in letzter Zeit … haarige Fälle gegeben?«
»Keine Ahnung. Ich war ein paar Wochen nicht da.«
»Warst du auf Urlaub?«
Er schüttelte den Kopf und hielt die rechte Hand hoch. Mary Ann hatte schon zuvor bemerkt, daß sein kleiner Finger bandagiert war … nicht jedoch, daß er in der Mitte aufhörte.
»Du armer Kerl! Wie ist das denn passiert?«
»Ach …«
Das Ohr … der Finger … Plötzlich war ihr alles schrecklich peinlich.
Vincent sah sie rot werden. »Ich geh manchmal auf ’nen Trip.«
»Tabletten?«
Er lächelte. »Nein … bloß auf ’nen Trip. Wenn ich depressiv bin. Völlig durch den Wind.«
»Ich fürchte, ich …«
»Es ist nichts Schlimmes. Ich komm schon damit klar. Aber jetzt aufgepaßt! Es ist fast acht. Bist du bereit?«
»Ja. Ich glaube schon.« Sie sank auf den Stuhl vor dem Telefon. »Ich denke, ich werde erst mal beide Ohren spitzen.«
Sie hätte sich die Zunge abbeißen können.
Phantasie für zwei
Nachdem Michael und Jon sich im Ghirardelli Cinema Franken stein Junior angesehen hatten, spazierten sie am Aquatic Park auf den Pier hinaus.
Es war dunkel auf dem Pier. Gruppen von chinesischen Fischern durchbrachen die Stille mit Gelächter und dem blechernen Plärren von Transistorradios. Ein Hubschrauber machte am Himmel wupp-wupp.
Die beiden setzten sich am Ende des Piers auf eine überdimensionierte Betonbank.
»Er ist ein Fragezeichen«, sagte Michael.
»Wer?«
»Der Pier. Ein riesengroßes Fragezeichen.«
Jon blickte über die schwarze Lagune, die durch die Krümmung des Piers gebildet wurde. »Stimmt nicht. Er ist andersrum geschwungen. Er ist ein spiegelverkehrtes Fragezeichen.«
»Gebildete Leute nehmen immer alles so wörtlich.«
»Entschuldige.«
»Hab ich dir schon die Geschichte von meinem Schimpansen erzählt?«
»Schimpanse wie Affe, oder was?«
»Ja, genau. Möchtest du sie hören?«
»Unbedingt.«
»Also … Schon als kleiner Junge wollte ich immer einen Schimpansen haben. Ich hab mir ausgemalt, wie ich einen Schimpansen so dressiere, daß er zu uns in die fünfte Klasse stürmt und Miss Watson, meine Lehrerin, mit Wasserballons bombardiert.« Er lachte. »Wenn ich mir’s recht überlege, war sie wahrscheinlich eine Lesbe. Ich hätte netter sein sollen zu ihr … Jedenfalls hab ich die Idee nie aufgegeben … den Wunsch nach einem Schimpansen, meine ich … und letztes Jahr hab ich es mal meinem Exmann erzählt … Ich meine, er ist jetzt mein Exmann … Zu der Zeit war er mein Mann.«
»Bleib bei deinem Schimpansen.«
»Okay … Der riesengroße Zufall war, daß Christopher schon seit der Kindheit genau die gleiche Phantasie hatte. Wir haben das also … eine Weile diskutiert und sind dann zu dem Schluß gekommen, daß wir zwei verantwortungsbewußte Erwachsene waren und es überhaupt keinen Grund gab, warum wir keinen Schimpansen haben sollten. Jedenfalls hat Christopher diesen Freund von sich angerufen, der bei Marine World arbeitet und sich mit dem Papierkrieg und dem ganzen Quark auskennt, und schließlich … wurden wir zu den stolzen Eltern eines Schimpansenteenagers, der Andrew hieß.«
Jon lächelte. »Andrew, Michael und Christopher. Wie
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