Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten
(oder hörbares) Zeichen für ihren Schmerz völlig undenkbar.
Sie spannte ein Blatt Papier in die Maschine. Es hing schlaff wie eine Kapitulationsfahne da und war eine schreckliche Metapher für die Leere, die sie seit Lukes Verschwinden spürte. Was gab es eigentlich noch zu schreiben? Wofür lohnte es sich noch zu leben?
Als sie das Blatt wieder herausriß, klingelte das Telefon.
»Ja?«
»Also, Prudy Sue, jetzt mal raus damit.«
»Mit was denn?« Victoria Lynchs Direktheit war eine lästige Masche, die sie einsetzte, um ihre Intuition herauszustreichen. Prue weigerte sich mitzuspielen.
»Das weißt du doch. Mit einem ehrlichen Bekenntnis. Teufel noch mal, was ist los mit dir? Seit du aus Alaska zurück bist, hängst du nur noch durch.«
Schweigen.
»Bei der Placentaparty gestern abend hast du total elend ausgesehen.«
Prue hätte ihr am liebsten den Kopf abgerissen. »Ich kann Placentaparties nicht ausstehen, kapiert?«
(Die Party hatte im weitläufigen Garten von John und Eugenia Stonecypher in Pacific Heights stattgefunden. In Fortführung einer geheiligten Familientradition hatte das Paar Eugenias jüngste Nachgeburt im Pflanzloch eines blühenden Pflaumensetzlings vergraben – ein Ritual, das der kleinen Tochter der Stonecyphers Glück und ein langes Leben bescheren sollte. Prue hatte fast gekotzt.)
»Da kenn ich wirklich Amüsanteres«, fügte sie hinzu.
»Du hast nicht angerufen«, konterte ihre Freundin.
»Ich bin ein bißchen deprimiert«, sagte Prue. »Was soll ich sagen?«
»Du kannst sagen, daß du mich anrufst. Du kannst dich auf deine Freundin verlassen, Prudy Sue. Aber, paß auf, ich hab eine ganz wunderbare Neuigkeit. Ich hab einen Laden gefunden, wo’s Rioco gibt!«
»Was ist das?«
»Du weißt schon. Die brasilianische Cola, von der Binky uns im Frühjahr erzählt hat.«
»Mir hat sie nichts erzählt.«
»Jedenfalls ist da ein Haufen Dschungelspeed oder so was drin. Halb Rio dröhnt sich damit voll. Guarana. Hört sich an wie Fledermausscheiße, ist aber ein tolles Zeug. Und die Twin Peaks Grocery hat’s jetzt. Was hältst du davon, wenn wir rausfahren?«
»Ich hab Redaktionsschluß, Vickie.«
»Wir könnten am Nachmittag fahren.«
»Vickie …«
»Okay, dann sei halt deprimiert.«
»Es ist lieb von dir, daß du an mich gedacht hast.«
»Ich will nicht lieb sein, Prudy Sue. Ich will meine Freundin wiederhaben.«
Nach einer langen Pause kam ein Seufzer der Kolumnistin. »Ich geb mir Mühe, Vickie. Laß mir ein bißchen Zeit, okay?«
»Einverstanden. Aber laß den Kopf nicht hängen, Prudy Sue. Geh wenigstens ein bißchen an die frische Luft. Führ Vuitton aus.«
Das hatte es gebraucht: einen kleinen schwesterlichen Rat von einer alten Freundin.
Trotz der wiederholten Warnungen von Pater Paddy hatte sie gewußt, daß dieser Augenblick kommen würde. Wie hätte sie ihn umgehen sollen? Was hätte sie davon abhalten sollen, für wie kurz auch immer an den Ort zurückzukehren, an dem sie die glücklichsten Stunden ihres Lebens verbracht hatte?
Außerdem, vielleicht fand sie dort einen Hinweis; etwas, das DeDe bei der Suche nach Luke und den Zwillingen helfen würde.
Sie braucht DeDe ja nicht alles zu erzählen – nur soviel, um sie in die richtige Richtung zu lenken. Das konnte doch nicht schaden, oder?
Außerdem suchte sie selbst noch ein paar Antworten. Vielleicht konnte die Wahrheit, wie schmerzlich sie auch sein würde, sie aus ihrer lähmenden Melancholie befreien. Einen Versuch war es jedenfalls wert.
Und Vuitton mußte ohnehin mal raus.
Ingaluk
Das erste, was Mary Ann an Little Diomede auffiel, war eine Reihe grob gezimmerter Holzkisten, die oberhalb des Dorfs auf den Felsen thronten. Sie fragte Andy Omiak danach.
»Särge«, antwortete er bereitwillig. »Der Boden ist die meiste Zeit steinhart gefroren. Wir müssen die Leute oberirdisch begraben.« Als er sah, was Mary Ann für ein Gesicht machte, ergänzte er: »Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Es ist so trocken hier, daß die Kisten länger halten als … ihr Inhalt. Und was noch übrigbleibt, verstreuen die Hunde.«
Die Hunde waren das nächste, was ihr auffiel. Dutzende, mit dickem Pelz und gelben Augen, streiften in bedrohlichen Rudeln über die Insel.
»Wir sind froh, daß wir sie haben«, stellte Andy Omiak klar. »Sie sind unser Radar. Wenn von der anderen Insel mal jemand rüberkommt, kriegen wir das durch die Hunde mit.«
DeDe, die auf dem Marsch vom Rollfeld ins Dorf bisher
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