Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
jemand aufgefallen, der hier rumschnüffelt?«
Was wollte sie damit andeuten? »Äh … nein. Nicht, daß ich wüßte. Sie meinen … Einbrecher oder so was?«
»Nein, nur so.«
»Mir ist nichts aufgefallen.«
»Gut.«
»Also, ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie …«
»Schon gut, mein Lieber. Ich bin sicher, daß alles in Ordnung ist.« Sie drückte an seiner Nagelhaut herum. »Wenn ich meine Adresse in der Zeitung lese, werde ich nervös, das ist alles.«
Die Maniküre erwies sich als wohltuend intimes Erlebnis. Einfach dazusitzen, während diese resolute kleine Frau seine Fingernägel auf Vordermann brachte, gab ihm das Gefühl, zum erstenmal seit seiner Ankunft in London richtig beachtet zu werden. »Machen Sie das schon lange?« fragte er nach einer Weile.
»Ach … seit fünfzehn Jahren oder so.«
»Und davor waren Sie Simons Kindermädchen?«
»Mmm.«
»Haben Sie auch in anderen Familien gearbeitet?«
»Nein, nur bei den Bardills. Jetzt die andere Hand, mein Bester.«
Sie rückte ihren Hocker zurecht, und er gehorchte. »Wollten Sie immer schon Kindermädchen werden?« fragte er. Kaum war die Frage heraus, kamen ihm Zweifel, ob sie nicht vielleicht zu persönlich war. Er hatte sich nie Gedanken gemacht, welche beruflichen Möglichkeiten es für Liliputaner gab.
»O nein!« antwortete sie sofort. »Ich wollte immer ins Showgeschäft. Ich war im Showgeschäft …«
»Sie meinen, in …?« In einem Zirkus, wollte er sagen, doch er sprach das Wort wohlweislich nicht aus.
»In einer Revue«, sagte sie. »Tourneetheater. Bißchen Tanz und Gesang. Szenen aus Shakespeare-Stücken, so was in der Art.«
»Wie faszinierend!« rief er, ganz hingerissen von dem Bild, das er vor Augen hatte: eine Liliputanerin in der Rolle der Lady Macbeth. »Warum haben Sie es aufgegeben?«
»Das Publikum hat uns aufgegeben«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. »Das Fernsehen war unser Tod. Das habe ich immer gesagt. Wer sollte Bunny Benbow wollen, wenn er Coronation Street für umsonst bekam?«
»Bunny Benbow? Hieß so die Show?«
»Die Bunny Benbow Revue.« Sie kicherte wie eine der Mäuse in Cinderella. »Doof, nicht? Heute klingt es ganz altmodisch.«
»Ich hätte es zu gern gesehen«, sagte er.
»Simons Eltern haben mich aufgenommen, als wir dichtmachten. Ihre Bekannten hielten sie für meschugge, aber mir hat es wirklich das Leben gerettet. Ich verdanke ihnen viel. Sehr viel.« Sie feilte die letzte Unebenheit aus einem Fingernagel und schaute zu ihm hoch. »Und Sie, mein Bester? Womit verdienen Sie Ihre Brötchen?«
»Ich bin Gärtner.«
»Wie reizend.« Sie unterbrach ihre Arbeit und starrte eine Weile versonnen ins Leere. »Auf unserem Landsitz in Sussex hatte Simons Mutter einen prächtigen Garten. Rosenspaliere. Die herzigsten kleinen Veilchen …«
Er sah, daß ihre Unterlippe leicht zitterte.
Schließlich seufzte sie und sagte: »Das Leben geht weiter.«
»Ja.«
Als sie eine halbe Stunde später ging, hatte sich seine Stimmung so gebessert, daß er beschloß, bei seinem ursprünglichen Plan zu bleiben und sich die Schwulenkneipen von Earl’s Court anzusehen. Von der U-Bahn mußte er nur noch einen Block gehen bis zu Harpoon Louie’s, einer fensterlosen Bar, über deren Eingang der Union Jack flatterte. Offenbar wollte man demonstrieren, daß auch Schwuchteln Patrioten sein können.
Drinnen war alles penetrant amerikanisch: helles Holz, Industrieleuchten, Warhol-Drucke an den Wänden. Aus den Lautsprechern tönte, vielleicht als Reverenz an die derzeitige Hausherrin von Kensington Palace, Paul Ankas »Diana«. Die Bardame sah sogar aus wie eine füllige Version der Prinzessin von Wales.
Die Gäste waren wie geklont. Mit ihren knappen Trikots und Adidas-Schuhen machten sie genauso auf Pose wie das übliche Volk an einem Samstagabend auf der Castro Street. Ihre Zähne waren nicht so weiß, weil sie offenbar mehr rauchten, und ihre Körper waren nicht so attraktiv, aber Disco Madness (zirka 1978) hatte in Earl’s Court bei guter Gesundheit überlebt.
Er setzte sich auf eine gepolsterte Bank an der Wand, nippte an einem Gin-Tonic und sah dem Treiben eine Weile zu. Dann las er in einer Zeitung namens Capital Gay (»The Free One«) eine Story über den Rocksänger Sylvester und ging nach hinten in den begrünten Hof, wo es nicht so laut und verqualmt war.
Als irgendwo eine Kirchturmuhr zehn Uhr schlug, machte er sich auf den Weg und ging an einer Reihe von Backsteingebäuden mit hohen
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