Stadtluft Macht Frei
Liudolfinger Otto dem Großen wiederbegründet.
Neben Handel und Wandel stand der neue Glaube, dem die Zukunft gehören sollte: das Christentum. Auch er war wichtig für eine damalige Stadt, besaß eine Ordnung stiftende, Strukturen schaffende Kraft. Marseille war nicht nur Hafen- und Handelsstadt, es war auch einer der wichtigsten frühen Orte des Christentums im Westen des Römischen Reiches bzw. seiner Nachfolgestaaten. 314 – ein Jahr nur nach dem Toleranzedikt Kaiser Konstantins des Großen (306– 337), das aus der einstmals verfolgten nunmehr eine geduldete Religion werden ließ – ist für Marseille ein erster Bischof bezeugt, ein Mann namens Oresius. Einer seiner Nachfolger, Bischof Proculus (380–430), der 50 Jahre lang seiner Gemeinde vorstand und seinen kirchlichen Sprengel am liebsten über das gesamte Küstengebiet und bis weit ins Landesinnere hinein ausgedehnt hätte, ließ in Marseille eine Kathedrale, ausgestattet mit einem großen Baptisterium, einer Taufkirche, errichten. 416 kam Johannes Cassianus, ein aus dem Osten des Römischen Reiches stammender Mönch, der lange Zeit in Bethlehem und in Ägypten gelebt hatte, nach Marseille, wo er in der Nähe des Hafens die Abtei St. Viktor gründete. Um die Abtei herum entstand eine christliche Nekropole. Cassianus war ein Mann von einer großen Ausstrahlung. Es bildete sich am Ort eine regelrechte theologische Schule heraus. Wer zu Cassianus wollte, um von ihm zu lernen, musste nach Marseille kommen. Auch das machte eine Stadt damals attraktiv, zog immer wieder Leute an.
Ein anderes Beispiel für eine frühmittelalterliche Stadt mit antiken Ursprüngen ist das italienische Genua. Auch hier ist die Siedlung uralt – vermutlich ist sie spätestens im 5. Jahrhundert v. Chr. vom Volk der Ligurer, dessen Name noch heute an der „ligurischen Küste“ haftet, gegründet worden. Entlang dieser Küste, vor der steilen Bergbarriere des Hinterlandes, entwickelte sich die Siedlung. Seit dem 4. Jahrhundert ist in Genua ein Bistum nachweisbar; der erste Bischof ist der zum Jahr 381 bezeugte Diogenes. Nach dem politischen Ende des weströmischen Reiches 476 gehörte Genua zunächst zum Ostgotenreich, einer völkerwanderungszeitlichen Reichsgründung in Italien, dessen berühmtester Herrscher Theoderich der Große (493–526) war. |35| Danach lag es im Befehlsbereich des sogenannten Exarchats Ravenna, das heißt, es lag im Gebiet eines dem oströmischen Reich in Konstantinopel unterstellten Statthalters. Unumstritten war Genua vom 6. bis zum 7. Jahrhundert das politische und wirtschaftliche Zentrum der „Marittima“, der Region, die vom Meer und von der Schifffahrt ihren Namen hat. Zwar lag Genua abseits von der
via Francigena
, der großen Pilger- und Handelsroute, die Italien von den Alpen in Richtung Rom durchzog. Doch jeder Kaufmann, jeder Fernhändler, der von Mittelitalien weiter nach Westen in Richtung Provence zog bzw. umgekehrt, musste an der Stadt vorbei oder in ihr Halt machen. Genua war zudem Sitz einer größeren Judengemeinde – auch dies ein Zeichen dafür, dass Handel und Gewerbe das Leben der Stadt bestimmten.
635 eroberten die Langobarden unter ihrem damaligen König Rothari die Stadt, und wohl erst jetzt kam es zu deutlichen Minderungen städtischer Qualitäten. Die Bevölkerung ging zurück, sie verlor politische Rechte. Wie der fränkische Geschichtsschreiber Fredegar im 7. Jahrhundert berichtet, führte die Eroberung durch die Langobarden zu einer Herabstufung Genuas von einer „Stadt“
( civitas
) zu einem „Dorf“
( vicus )
. Betroffen waren von dieser Maßnahme auch andere Städte der Gegend.
Rothari entriss mit seinem Heere dem Römischen Reich an der Meeresküste die Städte Genua, Albenga, Varigotti, Savona, Oderzound Luni; er verwüstete sie, brach sie und brannte sie nieder, die Einwohnerschaft holte er aus ihren Häusern, dann beraubte er sie und bestimmte sie zur Gefangenschaft. Indem er die Mauern der eben genannten Städte bis zu den Grundfesten niederreißen ließ, veranlasste er diese Städte (hinfort nur mehr) als Dörfer zu bezeichnen. 1
Eine kaiserliche Urkunde vom Beginn des 9. Jahrhunderts schildert uns Genua als überwiegend bäuerliche Gemeinde. Doch war, auch jetzt, immer noch so viel städtische Potenz vorhanden, dass die Siedlung einen raschen Wiederaufstieg nehmen konnte. In einer Urkunde Berengars II. und Adalberts, den damaligen Machthabern der Region, |36| von 958 werden den „Bewohnern der Stadt
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