Stadtluft Macht Frei
allen „Städtelobs“, der Feier der Stadt als Ort des Handels, der Bildung und des intellektuellen Lebens, gab es auch etwas anderes: die Kritik an der Stadt. Nicht so sehr Kritik an den hygienischen Bedingungen dort, am Unrat, am Müll und dergleichen, sondern Kritik an der Stadt als sozialer Lebensform. Die Kritik wurde hauptsächlich von Geistlichen vorgebracht. Man erinnerte daran, dass biblischen Anschauungen zufolge die erste Stadt vom ersten Mörder gegründet worden war, von Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hatte:
Und Kain erkannte sein Weib; die ward schwanger und gebar Henoch. Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch (Genesis 4,17).
Im 12. Jahrhundert rief Bernhard von Clairvaux, der berühmte Zisterziensermönch, die Pariser Stadtschüler dazu auf, aufs Land zu fliehen, in die ländlichen Klosterschulen. Nur dort würden sie ihr Heil finden. Die Stadt dagegen erscheint Bernhard als Babylon: „Flieht aus Babylon, aus der Mitte der Stadt, flieht und rettet eure Seelen.“ Wie jedoch der große Zisterzienser selbst eingestehen musste, hatte sein Aufruf nur wenig Erfolg: „Nur drei von ihnen wandten sich [von] den sinnlosen Studien ab und der Verehrung der alten Weisheit zu.“ Für Paulus |63| von Theben im 13. Jahrhundert war die große Stadt ein Kerker, ein Gefängnis. Die Städter sind Wölfe, begierig, einen aufzufressen, physisch und moralisch. Das große Gegenbild dazu ist für ihn die Einöde, ein wahres Paradies:
Wie lange also willst Du noch eingeschlossen sein in dem Kerker der großen Stadt? Glaube mir: Alle Städte sind für mich ein Kerker, und die Einöde, die Einsamkeit ist ein lustvolles Paradies. Bei den Leuten in den Städten zu wohnen, ist von übel. Es ist nicht minder schädlich als bei den Wölfen zu wohnen. 5
Die mit Abstand schärfste Kritik an der Stadt und an den Städtern scheint gegen Ende des 12. Jahrhunderts Richard von Devizes aus Winchester, ein Benediktiner, geübt zu haben. Zielscheibe seiner Kritik war vor allem London. Während etwa zur selben Zeit William Fitz-Stephen das hohe Lied auf die Stadt an der Themse sang, die sich eben damals anschickte, eine echte Metropole zu werden, findet sich bei Richard von Devizes nichts als ätzende Kritik. Vor allem das, was heute viele an den großen Städten fasziniert – ihr kosmopolitischer Charakter – war dem Mönch zuwider. Menschen aus zahlreichen Ländern, so meinte er, selbst exotische Personen aus Afrika, kämen dorthin und brächten ihre Gebräuche mit, vor allem aber ihre Laster. Niemand lebe in London, ohne Verbrechen verübt zu haben. Jedes Viertel der Stadt sei voll von widerlichen Obszönitäten, überall Betrüger und zwielichtiges Gesindel: Gaukler, Schauspieler, Zauberer, Tänzer. Tag und Nacht durchstreiften Vergnügungssüchtige die Straßen, jedes Bemühen um ein gottesfürchtiges Leben werde im Keim erstickt. Nur die Kleriker, so Richard, und die Juden seien von der Kritik auszunehmen. Aber auch sie, sofern sie in London lebten, seien weniger gut als anderswo – diese Stadt ziehe eben alles in ihren Strudel des Schlechten mit hinein. Wohl niemand hat im Mittelalter eine Stadt so stark kritisiert wie Richard London.
Erst im 13. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der Bettelorden, veränderte sich das Bild allmählich. Die Bettelorden hatten ihre |64| Klöster und Niederlassungen hauptsächlich in den Städten. Hier – nicht mehr in der Einsamkeit der Berge und der Täler – lagen ihre Betätigungsfelder. Erst jetzt wurden auch von geistlicher Seite aus die Möglichkeiten christlicher Lebensführung in den Städten herausgestellt, speziell für die Angehörigen der Bettelorden. Vor einer großen Gruppe predigen, das konnte man eben nur hier, in der Stadt. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass die Kritik an den Städten weiterging – bis ins 20. Jahrhundert und in die Gegenwart hinein. „Die Seele wird vom Pflastertreten krumm“, meinte der Schriftsteller Erich Kästner im frühen 20. Jahrhundert und forderte damit indirekt auf, den Einklang mit sich selbst auf dem Land, abseits von der Hektik der Städte, zu suchen. Kästners Zeitgenosse und Freund Kurt Tucholsky beschreibt in seinem Gedicht „Augen in der Groß-Stadt“ die Anonymität der modernen Metropole: „Da zeigt die Stadt, Dir asphaltglatt, Millionen Gesichter, im Menschentrichter.“ Die Stadt als Menschentrichter, als Moloch. Zwecklos, hier jemanden zu suchen, der einem gleich ist, mit dem man sich
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