Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
vierundzwanzig Stunden fließendes Wasser und Strom, was für Deutschland selbstverständlich ist. In der Stadt Kanpur, wo ich jedoch groß geworden bin, ist das leider sogar bis heute nichts Selbstverständliches.
■ Fördert das Zusammenleben in der Stadt Ihrer Meinung nach die Toleranz – oder ist eher das Gegenteil der Fall?
Ja, das Zusammenleben in der Stadt fördert die Toleranz sehr. Vor allem lernt man verschiedenste Kulturkreise kennen, die man auf dem Land gar nicht hätte. In der Stadt wird einem ein multikulturelles Leben geboten, aus dem man viel lernen kann. Mich begeistern die verschiedenen, aber irgendwie doch sehr ähnlichen Traditionen der verschiedenen Länder. Aber auch die verschiedenen Speisen sind immer wieder ein Genuss.
■ Wenn Sie schon auf dem Land gelebt haben: Was war dort schön – und was war schrecklich?
Ich habe bisher immer in der Stadt gelebt. Zwar sind wir manchmal ins Dorf gefahren, was für eine kurze Zeit schön war, aber dann fehlte mir doch das flexible Stadtleben, wo ich meinen Alltag hatte.
■ Tragen Sie sich mit der Überlegung, irgendwann (wieder) aufs Land zu ziehen?
Nein, wie gesagt bin ich ja schon in der Stadt groß geworden und liebe es hier zu leben.
■ Welches neue Projekt in Ihrer Stadt sollten andere Städte sich zum Vorbild nehmen?
Noch mehr Grünanlagen, so hat man in der Stadt beides, die Flexibilität und doch das Ländliche.
■ Wenn Sie heute ganz frei wählen könnten, ohne wirtschaftliche oder familiäre Zwänge: Wo und wie würden Sie leben wollen?
Ich würde weiterhin in der Stadt leben wollen.
Kapitel 6
Stadtluft macht frei – und schafft Kultur
Urbanisierung : Unter Urbanisierung (lat. urbs: Stadt) versteht man die Ausbreitung städtischer Lebensformen. Historisch gesehen ist eine Zunahme des Anteils der Stadtbevölkerung festzustellen. Im Jahr 2008 lebten weltweit erstmals in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land.
Wien. Ein Frühlingstag. Ich bin nach Österreich gefahren, um Maribel zu besuchen. Sie arbeitet mit Kultur- und Sozialprojekten in Zentral- und Osteuropa, eine Freundin aus Studientagen. Um in die Stimmung der Stadt einzutauchen, drapieren wir uns auf einem roten Enzi. So heißen Wiens eigenartige Plastiklümmelliegen, groß genug für eine Kleinfamilie oder für zwei Freundinnen; sie stehen in den Höfen des Museumsquartiers: ein ganzes Ensemble für die Kultur, ein Konglomerat aus historischen Gebäuden und knallmoderner Museumsarchitektur, siebzig Einrichtungen für zeitgenössische Kunst und Kultur. Wir halten kurz den Dialogfluss an, aber ruhig wird es nicht. Anlassloses Brodeln erfüllt die Luft. Menschen, die reden und lachen. Menschen, die hier sind, um hier zu sein. Die roten und grünen Enzis werden umrahmt von einem der größten Kulturareale weltweit, das bildende und darstellende Kunst, Architektur, Musik, Mode, Theater, Tanz, Literatur, Kinderkultur und digitale Kultur versammelt und urbaner Lebens- und Schaffensraum für zeitgenössische Kunst- und Kulturinitiativen ist. Historisches und Hippes, Dekoratives und Dekonstruktivistisches. Davon hat nicht nur Wien etwas: 3,6 Millionen Menschen kommen jährlich hierher. Strömen in die Museen, die Theater, atmen Kultur.
Stadtluft macht frei. So lautete ein Gesetz im Mittelalter. Demokratie, Freiheitsbegehren, Revolutionen, all das nahm in großen Städten seinen Ausgang. Angefangen in Athen, weiter mit dem Sturm auf die Bastille in Paris. Die chinesische Revolte begann auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, die Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche, die ägyptische Revolution auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Wer etwas in der Welt bewegen will, muss in die Stadt. So war es, so wird es immer sein. Wir betrachten in diesem Kapitel die Landflucht historisch, manches davon am Beispiel Wiens. Und erläutern, warum Kultur, Theater, Literatur in den Städten begann und dort aufblühte, in Bibliotheken wie jener in Alexandria, in den Amphitheatern für die Dionysien und in den Stadtlobgedichten in der Antike und im deutschen Mittelalter. Und warum heute zwar auf dem Land singuläre Events wie das Wacken Open Air oder das Schleswig-Holstein-Musikfestival als Leuchttürme dem trüben Meer Licht spenden können, konstante Kultur aber die Stadt braucht und Stadt die Kultur.
Was ist Stadt?
Maribel hat mich am Flughafen abgeholt. Als Erstes brachte sie mich auf den Leopoldsberg. Großer Blick über die Stadt, direkt unter dem
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