Stadtmutanten (German Edition)
Muskelprotze in Trägerhemden ließen sich jedoch nicht beeindrucken. Sie rannten zum Taxi und zogen wutentbrannt den Fahrer heraus.
»Bist du bescheuert? Was ist mit dir los, du Arsch!?!«
Sie warfen ihn zu Boden und schlugen auf ihn ein. Die Schiebetür an der Seite des Taxis sprang auf. Zwei Fahrgäste stiegen aus und rannten wie von der Tarantel gestochen in Richtung Inferno. Zwei weitere schienen ihnen zunächst folgen zu wollen, überlegten es sich jedoch anders und attackierten die beiden Muskelmänner. Die Menge staunte, dabei war der Kampf noch nicht einmal auf seinem Höhepunkt.
Mein Leben lang habe ich Schaulustige für ihren Mangel an Zivilcourage verachtet. Aber seit jener Nacht weiß ich, dass ich einfach keine Ahnung hatte, wovon ich sprach. Eine weit verbreitete Vorstellung ist, dass die unbeteiligten Massen sich angesichts eines Gewaltverbrechens nicht trauen, einzuschreiten. Die Wahrheit ist jedoch, dass die Zuschauer angesichts dieser geballten Ladung Realität vor Faszination versteinern. Unsere Gesellschaft erfordert ein derartiges Maß an Verdrängung, dass wir uns nicht einmal der Tatsache bewusst sind, in einer Scheinwelt zu leben. Die Schaulustigen verhalten sich so, weil sie angesichts dieser realen Konfliktsituation und der daraus erwachsenen Tragödie gelähmt sind. Echte Entrüstung und Anteilnahme sind schwer zu empfinden, wenn man es gewohnt ist, ständig seine eigenen Gefühle und Triebe zu ignorieren.
Und genau das geschah mit uns in jener Oktobernacht. Wir starrten wie gelähmt auf diese Szene absolut unvernünftiger Gewaltanwendung und Zerstörung, als wären wir Zeugen einer UFO-Landung. Ich bin nicht stolz darauf, aber wir schauten einfach zu, wie mehrere Menschen sich ernsthafte Verletzungen zufügten und taten nichts, um das Treiben zu beenden. Gar nichts.
Dann kam die Polizei. Sie ignorierten den Blechschaden und richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Tumult, der sich um das Taxi herum abspielte. Mit bestimmtem Auftreten und fester Stimme forderte einer der zwei Polizisten die Kämpfenden auf, sofort alle Feindseligkeiten einzustellen. Die Muskelmänner kamen der Aufforderung auf der Stelle nach und gingen ein paar Schritte zurück. Die Fahrgäste des Taxis jedoch ignorierten die Aufforderung und nutzten die neue Passivität der viel stärkeren Muskelmänner erbarmungslos aus. Sie warfen sich auf sie und ich konnte sehen, wie einer der kapitulierenden Muskelmänner in den Arm gebissen wurde. Er heulte auf, schüttelte den Angreifer ab und rannte aus der Gefahrenzone. Die Polizisten hatten sich zunächst ausschließlich auf die Muskelmänner konzentriert, die sie wohl für die Aggressoren hielten. Nun lenkten sie ihre Aufmerksamkeit auf das neue Problem. Sie forderten die Beißer mit Nachdruck auf, endlich friedlich zu sein und wurden erneut ignoriert. Stattdessen griffen die Beißer nun sie an. Daraufhin zogen die Beamten ihre Dienstwaffen.
In einem Hollywood-Actionfilm wäre die Geschichte nun gegessen gewesen. Die Cops hätten ihre Waffen angelegt und beim ersten Anzeichen weiterer Feindseligkeit den Beißern das Licht ausgeblasen. In der Realität bietet sich einem Polizeibeamten selbst in den Vereinigten Staaten nicht jeden Tag die Möglichkeit, einen Verdächtigen über den Haufen zu schießen. Deutsche Streifenpolizisten müssen sicherlich noch viel seltener ernsthaften Gebrauch von ihrer Dienstwaffe machen. Die Situation an diesem Abend hatte zunächst wie eine Rangelei unter Betrunkenen im Anschluss an einen Verkehrsunfall ausgesehen. Keine Terroristen, keine Hell’s Angels. Nur eine Reihe taumelnder Zivilisten, die zudem noch unbewaffnet waren. Wer würde da sofort losballern?
Die angreifenden Taxikunden schlurften angriffslustig auf die Beamten zu. Einer der Polizisten forderte sie wiederholt auf, stehen zu bleiben, da sie sonst Gebrauch von der Waffe machen müssten. Keine Reaktion. Dann schossen die Polizisten einmal in die Luft. Wieder nichts: Die Beißer setzten ihren Angriff unbeirrt fort. Sie kamen gefährlich nah. Schließlich fasste sich einer der Polizisten ein Herz und schoss einem Angreifer ins Bein. Der Mann ging zu Boden. Die Polizisten überwältigten nun den verbleibenden Beißer und legten ihm Handschellen und Knebel an. Der niedergeschossene Angreifer versuchte inzwischen, sich kriechend den Beamten zu nähern. Während ein Polizeibeamter den geknebelten Angreifer am Boden hielt, sprang sein Kollege auf den Kriecher und hielt ihn mit einem
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