Stadtmutanten (German Edition)
erzählte ich ihm alles von Doktor Bayer, den Soldaten, dem Elektrozaun, den Totenmännern, dem Massaker vor dem Krankenhaus. Dann stoppte ich. Enrico schaute mich noch immer auffordernd an.
»Und dann?«
Ich seufzte erneut. Nun kam der unangenehme Teil. Der Teil, vor dem ich Angst hatte. Der Teil, der mehr als alles andere erzählt werden wollte, den zu erzählen ich mich nicht traute.
»Ich habe Angst«, gab ich zu.
»Was immer du getan hast, oder dir widerfahren ist, es wird einfacher sein, wenn du es erzählt hast.«
Enrico war unerbittlich. Also erzählte ich ihm den Rest: Von meiner Episode als übermächtiger Totenmann inklusive des Gedächtnisverlusts und der Taten, die ich in dem Zustand verübt hatte; von Egor, der Angst vor mir hatte. Und dann, nach einem beinahe schon schmerzhaften Akt der Selbstüberwindung, erzählte ich Enrico, was Egor mir an der Wohnungstür gesagt hatte. Enrico nahm alles wie gewohnt mit bewegungsloser Miene hin. Er drehte sich wortlos einen Joint und nahm einen tiefen Zug, schloss dabei die Augen, als handele es sich dabei um einen meditativen Akt. Vielleicht war es auch einer. Als er schließlich nach einer halben Ewigkeit die Augen öffnete, nickte er und reichte mir den Joint. Ich nahm einen Zug und lehnte mich ebenfalls zurück. Enrico betrachtete mich einen Moment, dann lächelte er wieder.
»Siehst du, es war gut, dass du mir das erzählt hast.«
Ich fühlte mich nicht wirklich besser und sagte ihm das. Was er darauf antwortete, schlug dem Fass den Boden aus.
»Man sieht aber, dass es dir besser geht, Marek. Vorhin, als du noch in Rage warst, hattest du noch ihre Haut an den Händen, am Hals. Ich dachte schon, du würdest dich vor meinen Augen verwandeln. Aber dann wurdest du ruhiger und es ging zurück. Wahrscheinlich hat Egor etwas Ähnliches gesehen.«
Eine Weile sagte ich gar nichts. Was ich dann sagte, war zu 100% so gemeint.
»Du bist ein außergewöhnlicher Mensch, weißt du das, Enrico?«
»Was meinst du damit?«
»Enrico, du sitzt mir seelenruhig gegenüber, während ich auf dem Weg bin, mich in ein Monster zu verwandeln. Du schmeißt mich nicht raus wie Egor, der gar nicht so schlechte Chancen gehabt hätte, gegen mich zu bestehen. Du guckst dir alles in Ruhe an, als sei nichts gewesen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist lebensmüde.«
»Das bin ich nicht, Marek. Aber ich bin manchmal etwas kopflastig. Kann sein, dass ein Teil von mir Angst hatte, aber manchmal fehlt mir der Zugang zu meinen Gefühlen. Manchmal ist das schlecht. Gerade eben war es hilfreich, nicht?«
»Das war es. Es war…«
»Was?«
»Ach, nichts, ich bin zu platt, um das zu beschreiben. Aber du weißt schon, was ich meine?«
Enrico lachte. »Gutes Gras, eh? Macht die Zunge schwer und den Kopf langsam. Übrigens auch eine Vorsichtsmaßnahme, falls das Biest in dir zurückkommt, ist es wenigstens gehandicapt.«
Ich konnte nur nicken. Mann, mir schwamm wirklich der Kopf. Wir saßen noch eine Weile da und hörten Musik. Dann kam das Grübeln zurück. Die Wirkung des Grases hatte nachgelassen. In meinem Kopf arbeitete es. Ich musste das alles verarbeiten. Ich musste eine Mütze Schlaf nehmen und teilte Enrico dies mit.
»Und das werde ich zuhause tun. Nicht dass ich deine Gesellschaft nicht schätzen würde, Enrico, aber ich möchte nicht aufwachen und dich zerfleischt in der Ecke sehen.«
»Danke, mein Freund. Komm mich mal besuchen. Ich werde versuchen, jeden Tag mehrmals hinauszuschauen. Schreib mir ´ne Nachricht, wenn du mich besuchen willst.«
»OK. Pass auf dich auf.«
Marlene miaute.
»Und du auf dich, Marlene.«
Damit war ich wieder raus auf der Straße. Ich fuhr mein Auto zurück zu meiner Wohnung, in der ich mich nicht mehr heimisch fühlte und dachte über Egors Worte nach.
23 HIOBS PRIMATEN
Egor hatte sich vorgebeugt und die Worte gesprochen, die mir so viel Kopfzerbrechen bereiteten. Vorsichtig hatte er dabei gewirkt, beinahe heimlich, als wolle er verhindern, dass ein dunkleres Ich in mir davon erweckt würde:
»Ich wollte dir letzte Nacht Koks geben, um dich wieder normal zu machen. Aber als ich das Nasenspray vorbereitet hatte, warst du schon wieder von selbst normal geworden. Dann bist du noch zweimal mutiert und wieder normal gewesen. Und das alles in deinem Schönheitsschlaf, mein Freund. Ich verdanke dir noch immer etwas, Marek, aber ich will diese Verwandlung nicht bei einem wachen Marek erleben.
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