Stahlhexen
Nachbarhauses - das musste Nathans Haus sein. Fletcher trat ans Fenster und sah eine Weile aufmerksam hinüber. Es war ein hübsches kleines Häuschen, das Daisys Haus genau glich, verlassen dalag und keine Besonderheiten aufwies - nur von der Dachtraufe hing vereister Schnee herab. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Daisys Zimmer zu: ein Doppelbett mit schlichter Daunendecke, ein einfacher Schrank, zwei Stühle, ein Schreibtisch. Keine Bücher.
»Wo ist ihr Computer?«
»Den hat die Polizei mitgenommen.«
»Haben die sonst noch irgendwas mitgenommen?«
»Sonst war nichts da.«
Er nickte. Vor dem Schreibtisch hing eine Pinnwand mit ein paar Fotos. Da war Daisy selbst zwischen feiernden Studenten, die fantastisch aussah im Abendkleid und mit hochgestecktem Haar und deren harte Augen vor Vergnügen
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sprühten; andere Fotos zeigten ein älteres Paar, vielleicht ihre Eltern, beim Grillen, einen Hund und ein zufrieden dreinblickendes Pony mit einer Rosette am Zügel. Es war die Pinnwand der perfekten jungen Studentin, wie keine Zeitschrift sie besser porträtieren konnte.
Mit einer Ausnahme, dem Bild ganz oben, das über die anderen gepinnt war, als wäre es erst jüngst hinzugefügt worden.
Fletcher sah es sich an. Es war die Kopie einer alten Zeichnung - den Kleidern nach zu urteilen ein paar hundert Jahre alt. Das mit dicker, schwarzer Tinte gezeichnete Bild zeigte eine Frau, die von einem Mann mit hohem Hut verhört wurde. Auf dem Schoß der Frau saß eine schwarze Katze, die fauchend das Maul geöffnet hatte. Der Mann schrieb mit einem Federkiel in einer Pergamentrolle.
Darunter war mit Kugelschreiber notiert:
Er hat uns gekauft wie Tiere, hat Granny gesagt.
»Was bedeutet das hier?«, fragte Fletcher.
»Ich weiß es nicht.«
»Warum hat sie dieses Bild?«
»Es ist einfach nur irgendein Bild.«
»Interessiert Daisy sich für Hexerei ? Zaubersprüche und dergleichen?«
»Ich habe sie nie über so was reden hören.«
Was ist hier los?, dachte Fletcher. Daisy lernt Nathan Slade kennen und an ihrer Wand hängt das Bild einer Hexe. Er nennt sie eine Hexe und fällt auf einen Stahlträger, der ihn durchbohrt. Fletcher ließ noch einmal die Pinnwand als Ganzes auf sich wirken.
In der einen Ecke, fast verdeckt von dem dämlichen Pony, lugte der Zipfel eines DIN-A4-Blatts hervor. Fletcher nahm das Tierfoto weg. Darunter hing der Computerausdruck eines Fotos - grobkörnig und verschwommen, da es übermäßig stark vergrößert worden war. Er nahm das Blatt von der Pinnwand, wobei es an der Ecke einriss.
Seine Kehle war wie zugeschnürt und er schluckte mühsam.
Er hatte den Ausschnitt eines Fotos vor sich, ungefähr die eine Hälfte. Darauf war ein kleiner Junge vor einem wolkenlosen Himmel zu sehen, der jeden Moment auf einem gepflasterten Weg durch eine Rasenfläche rennen wollte.
»Woher kommt denn dieses Foto?« »Das habe ich noch nie gesehen.«
Fletcher hielt das Bild ins graue Nachmittagslicht. Kein Zweifel: Es war ein Ausschnitt des Fotos aus dem Zimmer seines Vaters. Jenes Fotos, das ihn selbst als kleinen Jungen zeigte. Auf dieser Vergrößerung sah man nur Tom Fletcher und den gepflasterten Weg - seine Mutter nicht, die war abgeschnitten. Fletcher betrachtete die energische Miene seines Kindergesichts, das deutlich erkennbar aus dem grobkörnigen Pixelgewirr heraustrat.
Auch in seinem Kopf herrschte in diesem Moment das reinste Wirrwarr.
Daisy Seager hat ein Foto von mir. Ob sie weiß, wen es zeigt?
Und wo hat sie es eigentlich her?
Er drehte das Blatt um: Die Rückseite war leer. Weil er Çidem nicht misstrauisch machen wollte, pinnte er das Bild wieder fest.
Als sie wieder unten waren, fragte Çidem: »Kommen Sie zurück, um die ganze Geschichte zu hören?«
Geistesabwesend zog er den Reißverschluss seines Parkas zu. »Es wird jemand kommen, ja.«
»Und die werden für die Story zahlen?«
»Ich denke schon. Verkaufen Sie sie nicht zu billig.«
Sie lächelte und machte die Tür der Strafzelle hinter ihm zu.
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Fletcher atmete einmal tief durch in der kalten, klaren Luft. Dann ging er um den Block herum in die Parallelstraße und zählte bis zu dem Haus durch, das genau hinter Daisys stand: bis zu dem Haus, in dem Nathan Slade gewohnt hatte. Der Vorgarten wurde völlig von einem großen Motorrad unter einer dicken Plane eingenommen. Das Haus selbst war klein, aber gut im Schuss und lag in einer gepflegten Wohngegend. Konnte man sich einen Beilman-Spitzenmanager in
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