Stahlhexen
Laterne war immer noch so, wie er sie in Erin-
nerung hatte, nur das Licht war jetzt orangefarben. Damals hatte es einen erdbeerroten Farbton gehabt und so laut gesummt, dass man es hörte, wenn man darunter stand oder im Sommer das Fenster aufmachte.
Daneben lag das Fenster des Arbeitszimmers seiner Mutter. Er hatte diesen Raum so gut in Erinnerung, weil sie ihn immer verschlossen gehalten hatte. Ihre »Nachforschungen« hatte sie die Arbeit genannt, die sie dort machte. Ein, zweimal war er trotzdem drin gewesen - und hatte Bücherstapel vorgefunden, an den Wänden beschriftete Blätter und Zettel und auf ihrem Schreibtisch die Schreibmaschine. Er lächelte - der Geruch des Schreibmaschinenöls, das urige Gerät, schon damals völlig veraltet, aber seine Mutter hatte diese Schreibmaschine geliebt. Manchmal hatte er abends oder auch spät in der Nacht, wenn er im Bett lag, durch die Wand das Geklapper gehört, wenn sie die Notizen auf den Blättern und Zetteln, die die Wand überzogen, zu einem Text zusammenschrieb.
Das Lächeln verging ihm.
Mit diesem Haus stimmte überhaupt nichts mehr, jetzt wohnte dort eine andere Familie. Eine Alarmanlage blinkte, die Vorhänge waren neu und am Straßenrand stand ein Wagen, den sein Vater sich niemals hätte leisten können. Einer der Vorhänge bewegte sich ganz leicht und jemand schaute misstrauisch auf ihn, den Fremden, der das Haus so auffällig betrachtete.
Fletcher ging zum Fluss hinunter und blieb dann im Halbdunkeln auf dem Steg stehen, der übers Wehr führte. Laut rauschend stürzte das Wasser die Stauklappen hinunter.
Hier war es gewesen, genau hier.
Hier hatte er seine Mutter zum letzten Mal gesehen, als sie über die Brücke davonging. In den Wochen davor hatte sie seltsam geistesabwesend gewirkt und sich offensichtlich vor irgendetwas gefürchtet. Einmal hatte sie am Morgen
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einen Bluterguss am Wangenknochen gehabt und Tränen in den Augen. Die Schuld daran hatte Tom Fletcher seinem Vater gegeben. Er hatte immer gewusst, dass es sein Vater gewesen war.
Ich habe ihr kein Haar gekrümmt, Tom.
Und was ist ihr dann zugestoßen?
Er ging weiter und folgte dem dunklen langen Weg über die verschneite Fläche des Jesus Green. Vielleicht, dachte er, war es ja dieser Weg hier, der auf dem Foto zu sehen war, der Weg, über den er als Kind gerannt war und an den er sich noch immer erinnerte.
Sollte er seine Mutter noch einmal treffen - sollte er jemals Gelegenheit haben, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen -, würde er ihr die Frage stellen, die er schon sein halbes Leben lang mit sich herumtrug. Warum hast du uns damals einfach verlassen?
Doch nun gab es noch eine zweite Frage, die ihm genauso wichtig vorkam. Daisy Seager ist eine zwanzigjährige Physikstudentin, die anscheinend in einem ihrer Zimmer Männerbesuch empfängt. Aber wer hat ihr ein Toto von mir gegeben?
Fletcher lief durch Cambridge und überquerte, eine Meile von seiner Wohnung entfernt, die Eisenbahnbrücke zur Mill Road. Normalerweise schwankten die Oberleitungen zu beiden Seiten der Brücke funkensprühend, wenn ein Zug vorüberfuhr. Heute Abend aber hingen sie, von Eis überzogen, still und starr in der Kälte.
Hinter der Brücke bog Fletcher in eine schmale Sackgasse ein, die am Rangierbahnhof entlangführte und von einem eisverkrusteten Stahltor begrenzt wurde. Fletcher schloss die Tür eines kleinen Reihenhauses auf, machte hinter sich zu und spürte, wie Wärme ihn umfing. Die Heizungsrohre knackten und der Heizkessel machte Überstunden. Fletcher stellte die Schuhe auf der Türmatte ab und trat ein.
Wie redete man eigentlich über so was? Wie's heute bei mir gelaufen ist? Ach, ich hab da so einen Amerikaner gefunden, der auf einem Stahlträger aufgespießt war.
Cathleen war unten im Wohnraum und drückte gerade die Schnappverschlüsse ihres Rollkoffers zu. Lächelnd blickte sie zu ihm hoch.
»Der Mann, der aus der Kälte kam.«
Sie war ein Jahr jünger als er, und ihr Sohn hatte gerade sein Studium begonnen. Für Fletcher sagte das mehr über ihr Leben als tausend Worte. Er hatte sie kennengelernt, als seine Familie auseinandergebrochen war - seine Mutter war über die Fußgängerbrücke gegangen und verschwunden, seinem Vater hatte man wegen Vernachlässigung das Sorgerecht entzogen - und man ihn übergangsweise bei Pflegeeltern untergebracht hatte. Damals war sie vierzehn gewesen und schon schwanger.
»Glaubst du, dass der Koffer zu schwer ist?«, fragte sie.
Er hob
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