Stahlhexen
schmal.
»Nathan und die Bellman Foundation. Daisy und das Felwell College«, sagte sie. »Denken Sie darüber nach. Ich möchte ebenfalls begreifen, was da passiert ist.« Sie machte die Tür auf. »Und Sie wollen in den Karton schauen.«
Von Cambridge aus verläuft ein stillgelegtes Eisenbahngleis vom Science Park durch die Vorstädte und noch meilenweit aufs Land hinaus. Um wieder einen klareren Kopf zu bekommen, folgte Fletcher den Schienen ein kurzes Stück. Über ihm drang die Sonne nur als rötliche Scheibe durch den Wolkenschleier hindurch. Vor ihm glitzerte das Eis auf den alten Stahlgleisen und dem geschotterten Bahndamm. Ganz in der Nähe stand ein halb verfallener Kriegsbunker, von Gestrüpp überwuchert, das mit seinen weiß bereiften Blättern wie das Negativ eines Fotos wirkte.
Fletcher bekam einfach keinen klaren Kopf.
Nathan Slade, dieser alte Sack mit Harley, hatte Fletchers Eltern anscheinend lange Zeit gut gekannt - eine Freundschaft, von der Fletcher selbst nicht das mindeste wusste.
Er versuchte, sich zu erinnern. War Slade je bei ihnen zu Hause gewesen oder hatten sie je einen gemeinsamen Ausflug gemacht? Nein, nie. An so jemanden wie diesen großen, breitschultrigen Amerikaner hätte er sich mit Sicherheit erinnert. Nein - seine Eltern hatten Nathan vor ihm geheim gehalten. Aber eines machte ihm wirklich zu schaffen an diesem Foto: Es war in der Zeit aufgenommen worden, kurz bevor seine Mutter verschwand. In Gedanken ging er jenes
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Jahr noch einmal durch, als würde er im Dunkeln mit den Fingern eine alte Narbe abtasten. Er dachte wieder an die stets verschlossene Tür zu ihrem Arbeitszimmer. Einmal war er nachmittags die Treppe hinaufgegangen und hatte die Tür halb geöffnet vorgefunden. Die Schreibmaschine hatte nicht geklappert.
Warum will ich mich daran nicht erinnern ?
Er schloss die Augen vor dem rötlichen Schleier am Himmel.
Da war das Zimmer gewesen. Kleine Stäubchen schwebten in der Luft, und alles war still. Der chromglänzende Hebel der Schreibmaschine. An den Wänden hingen zahllose beschriftete Blätter und alles mögliche andere. Er erinnerte sich an Landkarten und Listen. Die Bücher in dem kleinen Bücherschrank.
Konnte er sich erinnern, was er auf den Buchrücken gelesen hatte, bevor seine Mutter hinter ihm ins Zimmer trat, ihm die Augen zuhielt und sein Haar zerzauste ? Sie hatte gelacht, aber war es wirklich ein Scherz gewesen? Oder hatte er einfach nicht sehen sollen, was für Bücher in dem Schränkchen standen?
Er schlug die Augen auf und betrachtete den kahlen Bahndamm. Mit der Autosuggestion war das so eine Sache, das wusste er. Da erinnerte man sich plötzlich an Dinge, die nie geschehen waren, aber zu einem aktuellen Erlebnis passten. Trotzdem war er sicher, dass er ein paar der Buchtitel im Gedächtnis behalten hatte. Bei dem einen war es um die US Air Force gegangen. Und ein anderes Buch - ja, wirklich, das hatte er gesehen, bevor seine Mutter ihm die Augen zuhielt - war eine Geschichte des Felwell-Laboratoriums gewesen.
Was hatte Mia Tyrone ihm gerade gesagt? »Die Bellman Foundation und das Felwell College. Denken Sie darüber nach.«
Sie führten Matty zum Deeping hinunter. Der See ist auch heute noch da, wenn auch kleiner als damals. Damals waren es quer über den Teich dreißig Meter, hat Granny gesagt, und das Schilf am Ufer war zwei Meter hoch. Die Männer des Hexenjägers schnitten eine Schneise ins Schilf und traten es bis zum Ufer nieder. Es war Mittag, strahlend hell und warm. Sie führten Matty Flinter an einem Seil über die Felder. Sie trug ein Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte, und das geöffnete Haar fiel ihr über den Rücken. Einer der angeheuerten Männer flüsterte ihr etwas Ermutigendes zu, doch der Hexenjäger sah es und schickte ihn ins Dorf zurück. Als Matty die Schneise im Schilf und das dahinter glitzernde Wasser erblickte, blieb sie stehen und wehrte sich. Die Männer packten sie bei den Armen, doch sie schlug um sich und schrie und weinte.
Manchmal gehe ich zum See hinunter und mache es genauso, ich wehre und winde mich und schreie. Meine Schwester sagt dann, ich soll damit aufhören. Sie sagt, genau deswegen wollten uns die Lehrer nicht in die Schule lassen und niemand käme uns besuchen. Alle finden uns komisch. Mir ist es egal, was die denken. Manchmal geh ich zum Deeping, stelle mich ans Ufer und schaue in den See, und dann sehe ich mich selbst, wie ich da stehe, und es ist mir egal, was die alle
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