Stahlhexen
Kleidern auf dem Kundensofa eingeschlafen war. Blinzelnd hörte er den Klingelton durch den Raum hallen. Inzwischen war der Strom wieder da, und die Schreibtischlampe, die er nachts beim Stromausfall nicht ausgeschaltet hatte, leuchtete. Er ging zum Schreibtisch und nahm ab, sagte aber nichts.
»Mr Fletcher?« Eine weibliche Stimme. Draußen in den Nachbarhäusern der Green Street sah er Lichter brennen. Kein flackerndes Kerzenlicht, sondern elektrisch erleuchtete Fenster: All die Lampen, die nach dem Stromausfall noch angeschaltet gewesen waren.
»Mr Fletcher?« Okay. Jetzt konnte er die Stimme zuordnen. Grüne Augen, eine polnische Zeitung, Gerede über Löcher im Boden. »Wilbur Court, das Altenheim. Sie sind ein guter Mensch, Mr Fletcher.«
»Danke.«
»Ich bin gerade zur Arbeit gekommen. Habe ich Sie geweckt?«
»Ich bin schon stundenlang auf.«
Sie stockte kurz. »Ihr Vater ist wieder da.«
»Wo ist er gewesen?«
»Ich weiß es nicht. Wollen Sie ihn sehen?«
»Ja.«
»Dann sollten Sie sich, glaube ich, beeilen.«
Er schnappte sich seinen Schlüsselbund. Draußen in der Green Street brannten all die vergessenen Lampen im Halbdunkeln weiter.
Wilbur Court sah im ersten Tageslicht sauber und wie frisch gewaschen aus. Die Eiseskälte war inzwischen fast milden Temperaturen gewichen, und die Sonne leuchtete rot über den Nadelbäumen, von denen der Schnee tropfte, und ließ vom schmelzenden Eis auf dem Parkplatz feinen Dunst aufsteigen.
Fletcher traf die Pflegerin in der Eingangstür an, wo sie ihn schon erwartete. Auch sie wirkte frisch gewaschen, aber sehr besorgt.
»Vielen Dank für Ihren Anruf«, sagte er.
Sie biss sich auf die Lippe. »Er war oben in seinem Zimmer und ist sofort wieder heruntergekommen. Er ist in die Richtung weggegangen, dort durch den Wald.« Sie zeigte auf einen Weg, der hinter dem Gebäude entlangführte. »Sie müssen sich beeilen.«
Diesem Weg war er schon einmal gefolgt, und zwar in jenem verregneten Sommer, als er bei der Polizei gekündigt hatte. An dem Abend hatte er all seinen Mut zusammengerafft und gehofft, vielleicht doch einmal mit seinem Vater reden zu können. Heute war von dem Weg nicht mehr zu sehen als ein schmaler Streifen im angetauten Schnee, der durch den dämmrigen Wald geradewegs auf ein freies Feld führte, das ausgebreitet dalag wie ein schwarz-weiß gestreiftes, altes Stück Stoff. Am Rand des Feldes entdeckte Fletcher ein Feuer, das keineswegs nur vor sich hin glomm, wie bei diesem feuchten Wetter zu erwarten, sondern hell aufloderte, als würde es von einem Brandbeschleuniger wie Benzin angefacht. Fletcher rannte zwischen den Bäumen hindurch. Hin und wieder klatschte ihm ein eisiger Tropfen ins Gesicht, und zu seinen Füßen, wo die Sonnenstrahlen gerade erst hinreichten, stieg der erste Dunst auf. Er machte seinen Parka auf, rannte noch schneller und sprang über im Weg liegende Äste. Die rote Morgensonne stach ihm in die Augen. Am Ende des Weges kam er auf eine kleine Lichtung.
Weiter draußen auf dem Feld bildete sich dichter Nebel, doch unmittelbar vor ihm loderte ein kleines Feuer, in dem prasselnd Äste verbrannten und das den Geruch von Paraffin verströmte. Hinter dem Feuer saß Jack Fletcher.
Er trug Armeehosen und eine Regenjacke wie ein junger Mann auf Reisen, aber dass er es war, daran bestand kein Zweifel. Ein Mann von 1,95 Meter, hager und leicht gebeugt. Das Gesicht hatte allerdings tiefe Falten bekommen, und die Nase, die auch in Fletchers Erinnerung schon scharf gewesen war, erinnerte jetzt an einen schmalen Schnabel zwischen hellen Augen, die im hellen Paraffinlicht lebhaft funkelten. Dann wandte Jack Fletcher sich ab und ging am Waldrand entlang davon. »Dad«, sagte Fletcher.
Jack blickte sich um, ging aber weiter. Fletcher lief hinter ihm her und holte ihn ein. Achtzehn Jahre, und jetzt also trafen sie sich am Rande irgendeines dämlichen Feldes wieder, den Gestank von Paraffin in der Nase.
»Dad.« Fletcher streckte die Hand nach seinem Vater aus, um ihn festzuhalten. Jack schüttelte ihn ab und ging schneller. Sein Haar war noch immer lockig, doch die langen Strähnen waren inzwischen grau meliert und jetzt auch von halb geschmolzenem Schnee bedeckt.
»Dad, was ist eigentlich los?«
Jack warf Fletcher einen Blick zu. »Wir müssen ihn töten, bevor er sie findet.«
»Aber sie ist doch schon tot.«
»Wovon redest du ?«
»Daisy Seager ist tot. Sie wurde ermordet.«
Jack begann plötzlich zu rennen, in einem
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