Stahlhexen
unbeholfenen, schwankenden Galopp. Auf der einen Seite lag das riesige Feld, auf der anderen der Fichtenwald, und durch die Baumlücken drangen rote Lichtstrahlen, die die Ackerfurchen streiften. Jack blickte sich um, das Gesicht nass von Schweiß oder geschmolzenem Schnee. »Nicht Daisy Seager«, rief er. Er roch nach Paraffin und saurem Atem.
Fletcher rannte neben seinem Vater her, Seite an Seite liefen sie durch den Schnee. »Wer denn dann?«, fragte er.
Jack Fletcher fuhr herum und blieb plötzlich stehen, schwer atmend, die Stirn von einer tiefen Falte durchfurcht. Ein paar Vögel flatterten kreischend von ihren Bäumen auf.
»Eins musst du begreifen, Tom. Es geht um deine Mutter«, sagte er.
Sein Atemdunst verwehte im Sonnenlicht.
»Um meine Mutter?«
»Der Slade-Junge hasst sie, Tom.«
»Warum denn?«
»Das musst du doch wissen. Bist du denn nie in ihr Arbeitszimmer gegangen?«
»Das war immer abgeschlossen.«
»Weil sie an etwas gearbeitet hat. Sie hat Nachforschungen betrieben. Etwas, was mit den Amerikanern im Krieg zu tun hatte.«
»Und was genau?«
Jack Fletcher schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Das schwöre ich dir, ich weiß es wirklich nicht. Aber ich erledige das jetzt selbst.« Dann riss Jack die Augen plötzlich wieder auf. »Er bringt sie um, wenn er sie findet. Er wird sie ermorden, um das, was geschehen ist, ungeschehen zu machen.«
»Warum denn? Was ist denn geschehen?«
Statt einer Antwort griff Jack Fletcher in seine Manteltasche und zog seinen alten Revolver heraus. Er trat einen Schritt zurück und zielte auf seinen Sohn. Fletcher blickte in die Mündung: schwarz und kreisrund im Sonnenlicht, und auch hier verströmte sie den Geruch von Maschinenöl. Die Kammern waren jetzt geladen, die dunklen Patronenköpfe unübersehbar. Die Pistole zitterte und die Augen seines Vaters waren ängstlich aufgerissen. Dann ließ er den Revolver wieder sinken.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte Jack. »Das stimmtwirklich. Aber wenn du mir folgst, werde ich schießen. Ich will nicht, dass du mir folgst.«
»Okay, Dad. Geht in Ordnung.«
Jack Fletcher stand da, immer noch schwer atmend. Feuchtigkeit sammelte sich in den Furchen seines Gesichts, und er sah seinen Sohn an.
»Warum lebst du hier, Tom?«
»Was meinst du damit?«
»Ein Mann wie du, du könntest überall hingehen und alles Mögliche erreichen. Aber du bleibst in Cambridge und verlässt nie das eingefahrene Gleis. Warum?«
»Weil ich vermutlich ...« Er schluckte. »Weil ich vermutlich immer geglaubt habe, ich muss nur lange genug hier bleiben, und dann kommt sie zurück und findet mich.«
Jack sah ihm ein paar Sekunden lang in die Augen. Dann sagte er: »Ich liebe sie. Und dich habe ich auch lieb. Das weißt du.«
Fletcher sah ihm nach, wie er am Waldrand entlang davonging, getaucht in die roten Strahlen der Morgensonne, die zwischen den Bäumen hindurch auf das schneebedeckte Feld fielen. Die Worte seines Vaters hatten ihn wirksamer aufgehalten, als jede Kugel aus einem alten Armeerevolver es vermocht hätte. Jack Fletcher wollte allein vorgehen. Doch Tom Fletcher wusste, was jetzt zu tun war. Er musste seine Mutter retten. Weil sie etwas herausgefunden hatte, was der Slade-Sohn unbedingt geheim halten wollte. Denn deswegen hatte er auch Daisy Seager ermordet, weil Daisy es ebenfalls herausgefunden hatte.
Wann hat die Gefahr begonnen?
Ich muss darüber nachdenken. Wenn ich in Gedanken zurückgehe, sehe ich Sally und mich als Kinder. Sobald es dunkel wurde, zündete Granny die Lampe in der Küche an, und dann setzten wir uns in ihren Lichtkreis. Im Winter war es am schönsten, wenn das Feuer brannte und die
Lampe leuchtete, Granny in ihrem Sessel saß und wir auf dem Fußboden. Dann hat sie uns immer die Geschichte vom Dorf erzählt, davon, was der Hexenjäger uns hier angetan hat, und warum wir so sind, wie wir sind.
Dann ist Granny gestorben und Sally hat nicht mehr an die Geschichte geglaubt. Das war gefährlich, aber die eigentliche Gefahr begann erst danach. Als die Amerikaner kamen, brachten sie die Gefahr mit. Eine Gefahr, die schrecklicher ist als alles, was es auf der Welt gibt. Darum musste ich tun, was ich getan habe. Um uns zu retten.
»Er hat es auf deine Mutter abgesehen?« Auf dem Telefonbildschirm in Fletchers Wohnung war Cathleen in T-Shirt und Jeans zu sehen, schon für den Arbeitstag angezogen, und im Fenster neben ihr sah man, dass der Mittelmeerhimmel heute
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