Stahlhexen
der uniformierten Wächter trat ihnen in den Weg. Dann erkannte er Fletcher, sah Mia an und zögerte. Er trat zur Seite.
Ein Stück weiter, vor dem kleinen See, wurden drei Leute, in Scheinwerferlicht getaucht, von einem Fernsehnachrichtenteam interviewt. Der Springbrunnen lief wieder und spie eine hohe Wasserfontäne in die Luft - was der Reporterin als Metapher vielleicht gerade gelegen kam, denn Fletcher schnappte ihre Frage auf, mit der sie die einleitenden Worte an die Zuschauer abschloss: »Jetzt, da das Eis geschmolzen ist - sind wir ausreichend vorbereitet?« Sie wandte sich dem Trio zu. Die Erste in der Reihe war Tania Nile. Der Reißverschluss ihrer Wachsjacke stand offen und gab den Blick auf einen schwarzen Schal frei. Ein Zeichen der Trauer um Daisy Seager? An ihrer Seite erkannte Fletcher den Abgeordneten eines Cambridger Wahlbezirks und eine Führungskraft aus der Verwaltung von Bezirksfeuerwehr und Rettungsdienst. »Miss Nile, falls der Cam über die Ufer tritt, befindet sich Ihr College an vorderster Front. Wie gut sind Sie auf diesen Notfall vorbereitet?«
Tania Nile lächelte traurig und neigte den Kopf ein wenig. »Den Spitzenwein haben wir schon aus dem Keller geräumt.« Sie machte eine Pause, während der Abgeordnete
251wohlwollend nickte. »Aber jetzt einmal ernsthaft. Wir haben alle Vorbereitungen getroffen, die überhaupt möglich sind. Am Flussufer haben wir eine zusätzliche Mauer aus fünftausend Sandsäcken aufgeschichtet.« Sie bemerkte Fletcher und stockte. Dann redete sie weiter und beantwortete die Frage ausführlich, doch ihr Blick traf sich erneut mit seinem. Als die Reporterin sich den Politikern zuwandte, löste Tania Nile sich aus der Gruppe, trat zu Mia und Fletcher und stand dann einen Moment lang einfach da und sah sie an.
Fletcher stellte Mia vor. Dann fragte er: »Sie machen Witze über Wein, obwohl Sie Trauer tragen?« Er zeigte auf den Schal.
Tania Nile erwiderte nichts. Hinter ihr befragte die Fernsehreporterin gerade die Frau vom Rettungsdienst. Halb vom Regen übertönt hörte man die Worte »sintflutartig« und »Wassermassen«. Tania nestelte noch immer an ihrem Schal.
»In Norfolk gibt es ein Stück Land, das früher mal dem College gehörte. Wurde dort 1943 ein Luftwaffenstützpunkt errichtet?«
»Das geht Sie nichts an, Mr Fletcher.«
»Was genau ist damals dort vorgefallen?«
»Was auch immer Sie denken, Sie irren sich. Und zwar vollkommen. Es gibt nichts zu sagen, Mr Fletcher. Leben Sie wohl.«
Man hörte den Lärm von Generatoren, die mit einem lang gezogenen, kehligen Rattern ansprangen. Tania schüttelte den Kopf, wandte sich ab, ging rasch zum College-Eingang und verschwand durch das große Holztor.
Vielleicht war es nur eine Spiegelung der Fernsehscheinwerfer, aber es kam Fletcher so vor, als hätte er Tränen in ihren mit Kontaktlinsen geschärften Augen entdeckt.
Als wir an diesem Abend von Hanchton zurückkamen, redete Sally nicht mit mir. Sie machte das Licht aus und ging zu Bett. Ich wartete darauf, dass sie irgendetwas sagen würde, aber sie schwieg. Ich stand im Dunkeln auf und kniete mich neben ihr Bett. Dann ergriff ich ihre Hände. Sie waren kühl und die Handflächen waren rau. Ich presste ihre Hände an mein Gesicht. Sally hinderte mich nicht daran, verstehst du. Im Gegenteil, sie tastete mein Gesicht im Dunkeln mit den Fingern ab, von der Stirn bis zum Hals, und befühlte alles.
»Sally«, sagte ich.
»Evie.«
So sagte sie es. Evie. Mir wär's egal, wenn ich taub würde und nur diesen einen einzigen Laut im Ohr behielte, so wie sie damals meinen Namen sagte. Ich schob den Kopf unter ihre Hand, und sie strich mir mit den Fingern durchs Haar. Ich wusste, dass sie mich verstehen würde.
»Sally. Der Colonel sieht gut aus. Er spricht auch gut. Aber er stammt von jemandem aus unserer Vergangenheit ab und ist zu uns zurückgekommen. Der Colonel stammt von dem Mann ab, der damals alle hier ermordet hat, von dem Mann, der unser Dorf kaputtgemacht hat. Ich bin mir absolut sicher, dass er von dem Hexenjäger abstammt, von dem Granny uns erzählt hat. Wir dürfen nichts mit ihm zu tun haben, Sally. Wir wissen, was er im Blut hat.«
Sally nahm die Hand aus meinem Haar, und ich dachte, sie würde Vernunft annehmen. Ich sah, wie sie sich im Dunkeln bewegte. Ich konnte sie atmen sehen. Sie kniete sich aufs Bett, und ich dachte, jetzt ist alles in Ordnung. Sie versteht es. Sie merkt es selbst.
Dann schlug sie mich mit der flachen Hand ins
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