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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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«Neuen Deutschland» «Position des Klassenfeinds» genannt wurde, hieß in der «Welt» «Brunnenvergiftung». In der DDR hieß es «Kommt Zeit, vergeht Unrat»: Das sagte Hermann Kant, Präsident des DDR -Schriftstellerverbands, über den (ausgereisten) DDR -Schriftsteller Reiner Kunze. Es ist dieselbe Sprache. Es ist dasselbe Denken.
    Ist es nun, nach dem Fall der Mauer, von der ja ständig gesagt wird, sie existiere in den Köpfen weiter, noch immer dieselbe Sprache, dasselbe Denken? Ich glaube: nein. Gewiß, es gibt Angriffe, Verrisse, Infamien sogar; der alte Fuchs Friedrich Sieburg wußte bereits: «Wer nicht unter Literaten gelebt hat, weiß nicht, was Haß ist.» Wohl auch politisch grundierte Auseinandersetzungen – im alten Westen mit Botho Strauß oder Peter Handke, im alten Osten mit Heiner Müller oder Christa Wolf. Es gibt auch politisch motivierte Interessen und Desinteressen: Als ich 1997 auf Anfrage der deutschen arte-Redaktion Mitarbeit an einem Film über Johannes R. Becher anbot, ganz gewiß ein Zeuge unseres Jahrhunderts und eine vielfacettierte Schriftstellerpersönlichkeit, erhielt ich einen Zweizeilenbrief: Ich möge mich an einen «Ostsender» wenden.
    Von derlei wäre noch immer viel zu berichten. Allzulange ist es noch nicht her, daß man einen DDR -Schriftsteller auf Westbesuch fragte, wie lange er denn schon in Deutschland sei, es in Sportreportagen ganz selbstverständlich hieß «Auf Platz eins kam Schulze aus der DDR , bester Deutscher war Meier», und der Ostberliner Lyriker Uwe Kolbe notieren mußte: «Krönung war dabei die Frage einer Westberliner Verwandten, als ich sie von einer Westberliner Telefonzelle aus anrief, wie lange ich denn jetzt in Berlin sei. Mein Leben lang, liebe Tante.»
    Der Kalte Krieg ist ausgekämpft
    Zu berichten ist aber auch von der großen Resonanz im Westen auf Thomas Brussigs DDR -Roman «Helden wie wir», vom entdeckerischen Interesse des Westens an Autoren wie Durs Grünbein oder Ingo Schulze, von FAZ -Abdruck und Lob der Arbeit Monika Marons, Stieftochter des DDR -Innenministers Karl Maron und zeitweise Stasi-Zuträgerin, vom «Wessis in Weimar»-Erfolg Rolf Hochhuths in den neuen Ländern, von den vollen Sälen, wenn Günter Grass in Leipzig oder Halle liest, vom Alterspräsidenten des Bundestags Stefan Heym und vom PEN -Präsidenten Christoph Hein – der erzählen kann, wie suspekt er einst den zuständigen Ministerien und dem Genossen Hager war, und der sich erinnert: «Es gab bei uns damals diesen Witz: Die Kulturpolitik der DDR wird von der FAZ gemacht. Ich war dankbar im Sinn von Arno Schmidt, der schon früh gesagt hat, er danke dem lieben Gott jeden Tag dafür, daß es die DDR gibt, und er hoffe, daß es in der DDR einen Kollegen gibt, der gleichermaßen dafür dankt, daß es die BRD gibt. Es sei hilfreich, wenn jeweils auf der anderen Seite jemand ist, der aufpaßt und beruhigend einwirkt.» Auf die Frage «Fehlt Ihnen die DDR ?» antwortete er: «Nein, mir fehlt die BRD , die alte BRD .»
    Die Nachkriegszeit ist zu Ende gegangen.
Pars pro toto
kann man es ablesen, wenn man Heft  1 des im Jahre 1979 gegründeten «Freibeuters» und das 1999 erschienene letzte Heft Nr.  80 dieser temperamentvoll mutigen Zeitschrift des Wagenbach Verlags in die Hand nimmt. Was sind die «Besonderen Kennzeichen»? In Heft  1 ein wichtiger Text von Franz Fühmann und ein von Wagenbach besonders intensiv geführtes Gespräch mit Stephan Hermlin, in dem dieser von Teo Ottos Rat des Jahres 1945 «Gehen Sie doch nicht nach Deutschland» über die historische Anekdote, daß in der Schlacht von Frankenhausen die reaktionären Truppen des Grafen Mansfeld und die aufrührerischen Haufen Thomas Müntzers beide niederknieten, um «Ein feste Burg ist unser Gott» zu singen, bis zu dem Satz «Ich lege keinen Wert auf ein Gesamtdeutschland» seinen Deutschland-Horizont ausmalt; im letzten Heft kein DDR -Autor der ehemaligen DDR . 1979 nicht nur Celans «Todesfuge» und Peter Weiss’ zentraler Text «Meine Ortschaft», sondern auch Alexander Kluges grausige Mitschrift des Tagebuchs jenes Auschwitz-Lagerarztes, der 10 717 Häftlinge ins Gas schickte, einen «Liebesversuch» zweier Aufgepäppelter zur Überprüfung seiner Sterilisationsexperimente protokollierte und nach 1945 auf seinen Lehrstuhl nach Münster zurückkehrte; 1999 Ruth Klügers Erfahrung aus den achtziger Jahren: «Ich verfasse eine harmlose Parodie auf ein abstruses Gedicht von Celan. Leute, die ich

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