Stahlstiche
Unreinlichkeit, die die augenblickliche Debatte bis zur Unredlichkeit trübt. Selbst der wahrlich des Differenzierens fähige kluge alte Rolf Liebermann bestimmte jüngst «links» als «antirassistisch, antifaschistisch». Das stimmt nicht. Dann wäre der emphatische Royalist Joseph Roth «links». Dann wäre der gesamte aristokratische und katholische Widerstand, bis zu den Leuten vom 20 . Juli, «links». Das waren sie aber sowenig, wie Mirabeau Antiroyalist war. Prompt stimmt auch Rolf Liebermanns Diktum nicht: «Kunst ist links … Ich kenne keinen Künstler von Qualität, der rechts ist.» Der Royalist Balzac oder Flaubert, der eine Aristokratie geradezu herbeiflehte – links? Ezra Pound, Louis-Ferdinand Céline – keine Künstler von Qualität?
Viele von uns – ich auch? ich auch – waren voll Abscheu über die Restauration in Westdeutschland, für deren Herren ein Mann namens Mende das Ritterkreuz wieder salonfähig machte und für deren Damen sich der Oberbekleidungskünstler Heinz Oestergaard empfahl, indem er die Kleider für Zarah Leander in «Ave Maria» entwarf; man sang «Auf Regen folgt Sonne, nach dem Weinen wird gelacht» – und so war es auch. Eine Dissertation ließe sich schreiben über die Verwendung – wann, wo, wie oft, in welchem Zusammenhang – des Wörtchens «vergessen»; ob in Maria Schell/O. W. Fischer-Filmen oder im Schlager. «Der alte Seemann kann nachts nicht schlafen» – das war beliebt; die Frage, ob vielleicht der Gedanke an die von seinen U-Booten Ertränkten ihm die Ruhe raube – die war es nicht. Kein schöner Land in dieser Zeit …
In diesem vagen «Links»-Begriff liegt die Schwäche der Position. Er war – in Westdeutschland – nie inhaltlich gefüllt. Ich werde nie vergessen, wie verblüfft ein wenig später der damals der DKP nahestehende Romancier Martin Walser meine Anthologie «Marxismus und Literatur» 1969 zur Kenntnis nahm; von Lassalle oder Plechanow, Franz Mehring oder Gramsci hatte er noch nie gehört. Oder wie ein befreundeter Schriftsteller meiner Ablehnung des von ihm damals bewunderten Frisör-Schriftstellers Lawrence Durrell begegnete: «Man merkt Ihre dialektisch-materialistische Schulung.» Dialektik konnte man offenbar lernen wie Autofahren. Linke unter sich. Dann kam so eine Zeit der Marxismus-Kochkurse, Drei- oder Viermonats-Schnellkurse, von windigen und schlüpfrigen Scharlatanen absolviert. Man kann das die Phase der Boehlichs nennen; also nicht ernst zu nehmen. Solche Brackwasser-Surfer verkündeten mal auf schickem Packpapier den «Tod der Literatur», und mal griffen sie in Hochglanzjournalen die Unkultur der Hochglanzjournale an. Die hätten sich zur Zeit der Mao-Mode am liebsten die Augen operieren lassen. Im Moment sind, glaube ich, die Fußgängerzonen dran. Das sind zuverlässige Leute. Denen vertraut man sich gerne an. Ist das links?
Eine Auseinandersetzung mit sozialistischer Theorie war es sowenig wie eine mit der Praxis. Weil viele von uns das bruchlose Kontinuum des Goebbelsschen, von Millionen getragenen Antikommunismus zu dem der Adenauer-Ära ekelte, wollten wir nicht antisowjetisch denken, fühlen, argumentieren. Tucholskys Satz «Ich bin kein Bolschewist, aber ich bin Anti-Antibolschewist» war noch nicht bekannt; aber er war die Maxime. Nur leider nicht der andere Satz dieses Mannes, der schon Anfang der dreißiger Jahre Stalin einen Verbrecher genannt hat: «Aber links ist nichts und aber nichts … Wer einmal marxistisch denken gelernt hat, der kann überhaupt nicht mehr denken und ist verdorben.» Vielleicht dachte und schrieb sich derlei 1934 «leichter»; nach zwanzig Millionen Toten der Sowjetunion mochten, konnten viele von uns so nicht fühlen.
Das war historisch Rechtens, zumindest begreifbar; politisch-moralisch war es fragwürdig; gar frevlerisch. Heinrich Mann hätte, nach den Morden an Trotzki oder Isaac Babel, nicht Stalin als Intellektuellen feiern und schreiben dürfen: «Stalin ist kein Diktator.»
Hunderte solcher falscher Priester – weil sie Achtung, Respekt, Bewunderung verdienten als Opfer und Verjagte und wohl auch als Künstler – wurden von unsereins akzeptiert; sie haben falsch Zeugnis geredet, von Feuchtwanger bis Brecht. Niemals hätte der Stückeschreiber einen Preis mit dem Blutnamen Stalin annehmen dürfen. Jedoch nach seinen verschwundenen Freunden Tretjakow und Carola Neher fragen müssen. War das nun links – oder waren die Mörder links? Und war dieser Brief
Weitere Kostenlose Bücher