Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
Vom Netzwerk:
quälen, eine andere Flucht meinen:
    ab und zu einen großen bomber über mir, sehe ich eine kletterpflanze und denke: für sie gibt es keinen determinismus, angenommen, sie benützt ein system von gründen, ein mann kommt, streckt einen arm aus und bindet sie an einen draht – einmal in ihrem leben. so etwas kann in ihrem system nicht als determinierung vorkommen, ich denke dann: das sind morose gedanken, stehe auf, eine zigarre zu holen.
    Zu diesen beiden Stichworten, «morose Gedanken» und «Zigarre», hat Carl Pietzcker mit seiner Studie über Brechts Herzneurose «Ich kommandiere mein Herz» eine aufregende Untersuchung vorgelegt. Pietzcker ist Äußerungen des jungen Brecht und denen vieler Zeugen seiner frühen Jahre nachgegangen, die zweierlei dokumentieren: daß Brecht schon früh (und zeit seines Lebens) unter qualvollen Herzattacken litt – und daß er ein wahrhaft ausgeknobeltes System von Maßnahmen entwickelt hatte, sich zu schützen. Das beginnt beim Anhören erregender Musik – und endet bei der Liebe: schon als Junge will er bei der Matthäuspassion in «wildes Koma gefallen» sein; Hanns Eisler berichtet: «Er konnte überhaupt nichts anfangen zum Beispiel mit Beethoven … Man muß wissen, daß Brecht eine Art Selbstschutz hatte. Er hat sich mit Musik nur soweit eingelassen, als er sie gebraucht hat.» Das Wort «Musik» wäre austauschbar – Brecht hat sich mit
allem
nur soweit eingelassen, wie er es gebrauchen konnte: Politik, Schreiben, Frauen.
     
    Pietzcker führt sehr einleuchtend das Baumaterial des Brechtschen Systems vor:
    Schuldgefühle können zum «Herzkrampf» führen. Wenn «Mittel» versagen, mußte Brecht kräftigere suchen. «Mein Appetit ist zu schwach. Ich bin gleich satt!! Die Wollust wäre das einzige, aber die Pausen sind zu lang, die sie braucht! Wenn man den Extrakt ausschlürfen könnte und alles verkürzen! Ein Jahr vögeln oder ein Jahr denken!» Sein «Appetit ist zu schwach»: Selbst wenn beim Essen keine aggressiven Tendenzen drohten, der Esser stieße an dessen Grenze, und so an die der unbegrenzten Einheit mit dem Objekt. Nur einmal kann er ja, indem er essend stirbt, die Wahrnehmung jener Grenze meiden. Auch kann er diese Einheit mit sich selbst essend nicht herstellen: «Alles ist nur halb/ich äße mich gerne selber.» Da sind «Vögeln» oder «Denken» schon wirksamere Mittel. Er kann seine ohnmächtige Passivität verlassen und aktiv die Einheit mit einem guten Objekt herstellen, das er beherrscht: die Frau oder, was weniger gefährlich ist, die eigenen Gedanken, oder gar schreibend: das eigene Werk. Doch wenn seine Aktivität nachläßt, die Einheit mit dem Objekt zerbricht und das von Größenphantasien getragene Hochgefühl zerstiebt, erfährt er auch hier die erschreckende Leere der «Pausen», seine Ohnmacht und Verlassenheit: «Es ist zuviel Pause zwischen den Sternenhimmeln», Essen, «Vögeln», «Denken» und auch Schreiben sind keine zuverlässigen Mittel. Dennoch sucht er vor allem bei
Frauen
und im
Schreiben
Schutz vor Angst. Sie waren seine wichtigsten «Mittel».
    Beide müssen gehärtet werden. Das Härte- und Kälte-Konzept Brechts – fast in der Nähe von Nietzsches «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker» – ist ein Angriff auf die Welt aus Angst vor der Angst. Schon der 18 jährige notiert, als er wegen Herzkrämpfen das Zimmer hüten muß: «Man wird stark, wenn man einsam ist und das beste Verhältnis zu den Menschen ist: weit weg.» Das entspricht einer späteren Szene, wie Brecht eine seiner Geliebten, Ruth Berlau, begrüßt – und dabei zurücktritt. Und das wiederum entspricht dem ästhetischen Credo; beziehungsweise produziert es: «Ich fühle nur, wenn ich Kopfschmerzen habe, nicht wenn ich schreibe, dann denke ich nämlich.» Die Kausalität: Herzphobie, weil Herz als Einbruchstelle von Ängsten – anerzogene Kälte («Finsternis») – Schutzbedürfnis («Fühlte er sich beim Spielen bedrängt, lief er schnell ins Haus und rief nach der Mama») – Konflikt um Abhängigkeit und Bindung – gestische Verfremdung statt Beteiligtsein ist sehr einleuchtend. «Soweit er in der Abwehr der für ihn bedrohlichen Gefühle kontraphobisch reagierte, wurde Brecht zur Betonung des Willens, des Intellekts und der Gefühlskontrolle getrieben», schreibt Pietzcker.
    Politisch heißt das, stets
neben allem
zu stehen. Brecht war so uninteressiert an der Münchner Räterepublik – «Während der Kämpfe um Augsburg und

Weitere Kostenlose Bücher