Stalingrad
verläuft ruhig. Der Deutsche ist ein Dumm kopf, er merkt nichts: Wie früher beschießt er ungern und selten den Weg und den Nordrand von Petropawlowka. Zwei oder drei Granaten explodieren bei uns im Hof: Schirjajews Gefechtsstand befindet sich im Keller eines vierstöckigen Hauses, das von Granaten durchlöchert ist; früher war es anscheinend eine Gemeinschaftswohnung. Ein Splitter verwundet eine braune Katze, die mit ihren Jungen bei uns im Keller lebt. Der Sanitäter verbindet sie. Sie miaut, blickt uns alle mit gelben, erschrockenen Augen an und kriecht mit ihren Jungen in die Kiste. Die Jungen maunzen, kriechen übereinander, drücken ihre Schnäuzchen gegen den Verband und können die Zitzen nicht finden.
3
In der Nacht legen wir Minen am Ufer. Walega, mein Melder, gräbt Löcher. Boiko, ein Sergeant, legt die Minen und tarnt sie. Scharf macht sie ein kleiner flinker Soldat aus dem Bataillon, der in seiner Emsigkeit einem Käfer ähnelt. Früher war dieser Mann Pionier. Schirjajew hat ihn mir zugewiesen.
Die Nacht ist dunkel. Manchmal setzt ein angenehmer warmer Regen ein. Ich decke mich nicht einmal mit der Zeltbahn zu.
Raketen steigen hoch, eine nach der andern. Träge knattern die Maschinengewehre.
Ich liege zwischen Kletten, die angenehm nach nächtlicher Feuchtigkeit und nasser Erde riechen.
Weder Walega noch Boiko sind zu sehen. Ab und zu geht ein Soldat mit Minen vorsichtig durch das raschelnde Schilf. Die Minen liegen neben mir, und er nimmt jedesmal gleich vier Stück, die er mit einem Gurt zusammenbindet.
Ich schaue zum andern Ufer hinüber, wo Gruppen gebeugter Weiden von dem flackernden Licht der Raketen beleuchtet werden.
Ich erinnere mich an unsere Straße – einen Boulevard mit mächtigen Kastanien. Die breiten Kronen der Bäume bilden ein Gewölbe. Im Frühling bedecken sie sich mit weißen und rosa Blüten wie mit Lichtern. Im Herbst verbrennen die Hauswarte die Blätter, und die Kinder stecken sich alle Taschen voll Kastanien. Auch ich habe sie einst gesammelt. Wir schleppten sie zu Hunderten nach Hause. Glatt, wie lackiert, füllten sie alle Kästen, waren allen im Wege, und noch lange danach holte man sie beim Fegen unter Schränken und Betten hervor. Besonders viele waren stets unter dem großen Diwan. Ein schöner Diwan war es, breit und bequem. Ich schlief darauf. Am Nachmittag pflegte sich die Großmutter auf dem Diwan auszuruhen. Ich deckte sie mit einem alten Mantel zu, der nur noch diesem Zwecke diente, und drückte ihr einen Band Memoiren oder »Anna Karenina« in die Hand. Dann suchte ich die Brille, die in der Schublade bei den Löffeln oder im Büfett lag. Wenn ich sie gefunden hatte, schlief die Großmutter bereits, und der alte Kater Frakas mit dem angesengten Schnurrbart blinzelte unter dem kahlen Mantelkragen hervor.
Mein Gott, wie lange ist das doch alles her! Vielleicht ist es auch niemals Wirklichkeit gewesen, und es erscheint mir nur so …
Rechts steht ein großer Schrank. Darin versteckten wir uns als Kinder beim Spielen. Ursprünglich hatte er im Korridor gestanden. Später, als eine Tür zum Korridor durchgebrochen wurde, schaffte man ihn ins Zimmer hinüber. Auf dem Schrank stehen Hutschachteln, von denen man den Staub nur vor Neujahr, vor dem Ersten Mai und vor Mutters Geburtstag, dem vierundzwanzigsten Oktober, abfegt.
Hinter dem Schrank steht eine Kommode mit einem ovalen Spiegel und unzähligen Vasen und Fläschchen. Ich erinnere mich nicht, wann in diesen Fläschchen Parfüm gewesen ist, doch aus irgendwelchen Gründen ist es nicht gestattet, sie wegzuräumen. Nimmt man den Stöpsel heraus und zieht ganz tief die Luft ein, so kann man noch den Parfümgeruch wahrnehmen.
Dann kommt der Nachttisch … nein, erst ein blauer Sessel mit einem festgebundenen Bein. Man darf sich nicht darauf setzen, und Gäste werden davor gewarnt. Dann erst kommt der Nachttisch. Er ist vollgestopft mit weichen karierten Schuhen, und im Kästchen befinden sich Großmutters Pulver und Pillen. Schon seit langem kann sich kein Mensch da durchfinden. Auch das Gläschen für Baldriantropfen ist hier, damit der Kater es nicht findet …
Und all das ist jetzt dort … bei ihnen …
Die letzte Postkarte von der Mutter erhielt ich drei Tage nach Bekanntgabe der Räumung Kiews. Sie war noch vom August datiert. Die Mutter schrieb, daß die Deutschen zurückgeworfen worden seien, der Kanonendonner sei kaum noch zu hören, man habe den Zirkus und die Komödie wiedereröffnet.
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