Stalingrad
»Übrigens schreib öfter, ich weiß, daß Du wenig Zeit hast, aber wenn es nur drei Worte sind …«
Seit damals sind zehn Monate vergangen. Ich nehme manchmal die Postkarte aus der Tasche und betrachte die feinen unleserlichen Buchstaben. Sie sind undeutlich geworden vom Regen und Schweiß. An einer Stelle ganz unten sind die Worte gänzlich verwischt. Aber ich weiß sie auswendig. Ich kenne die ganze Postkarte auswendig. Auf der Anschriftseite links eine Reklame des Gummitrusts, Füße in hohen Überschuhen. Rechts die Briefmarke – der Untergrundbahnhof »Majakowskaja«. In meiner Jugend habe ich mich für Briefmarken begeistert und alle Freunde und Bekannten gebeten, auf die Umschläge hübsche neue Marken zu kleben. Wie in meiner Kindheit hat die Mutter auch jetzt eine hübsche Marke aufgeklebt. Die Briefmarken lagen bei uns in einer kleinen, länglichen Schachtel links auf dem Tisch. Die Mutter hat wahrscheinlich lange gewählt, bis sie sich zu dieser entschloß, einer hübschen grünen. Sie stand über den Tisch gebeugt, ohne Brille, und schaute mit kurzsichtigen, zusammengekniffenen Augen …
Soll ich sie wirklich niemals wiedersehen? Klein, beweglich, mit einer goldenen Brille und einer winzigen Warze von der Größe einer Blaubeere auf der Nase. Als Kind habe ich diese Warze gern geküßt.
Sollen wir nie mehr gemeinsam am kochenden, auf der einen Seite eingebeulten Samowar sitzen und Tee trinken und dazu von Mutters geliebter Himbeermarmelade kosten? Soll sie wirklich nie wieder mit der Hand über mein Haar streichen und sagen: »Du siehst heute schlecht aus, Jurok. Vielleicht gehst du mal früher schlafen?« Wird sie mir nie wieder morgens auf dem Primuskocher Kartoffeln braten, in großen runden Scheiben, wie ich es gern habe? …
Soll ich wirklich nie wieder um die Ecke nach Brot laufen, nie wieder durch die Kiewer Straßen schlendern, die im Duft der blühenden Linden ertrinken, nie wieder im Sommer an den Strand fahren nach der Truchanow-Insel? …
Liebes, liebes Kiew! Wie sehne ich mich nach deinen breiten Straßen, nach deinen Kastanien, nach den gelben Ziegeln deiner Häuser, den dunkelroten Säulen der Universität. Wie liebe ich deine Dnjepr-Abhänge! Im Winter liefen wir dort Ski, und im Sommer lagen wir im Grase, zählten die Sterne und hörten den trägen Sirenen der Nachtdampfer zu. Wir kehrten dann heim über die still gewordene Kreschtschatikstraße mit den erloschenen Schaufenstern und schreckten die ruhig schlafenden Wächter in den Haustoren auf, die sich sogar im Sommer in die zottigen Schafpelze wickelten.
Auch jetzt spaziere ich noch manchmal im Geiste die Kreschtschatikstraße entlang. Ich hülle mich fest in meine Zeltbahn, schließe die Augen und gehe von der Bessarabka zum Dnjepr, bleibe neben Schanzer stehen. Als wir Kinder waren, erschien uns dieses Kino als das Schönste auf der Welt. Figuren mit großen Trompeten längs der Leinwand, Opferschalen mit roten Bändern, die wie Flammen zittern, und der erregende Kinogeruch. Wie viele glückliche Stunden habe ich in diesem Kino verlebt! »Das Indische Grabmal«, »Der Dieb von Bagdad«, »Das Zeichen Zero« … Mein Gott, es verschlägt einem den Atem! Etwas weiter, neben der Proresnajastraße, in dem engen »Corso« mit den unnummerierten Plätzen liefen Cowboy-Filme. Schulterklappen, Schießereien, Mustangs, Colts, Frauen in Hosen, Bösewichter mit dünnen Schnurrbärtchen und sarkastischem Lächeln.
Im »Expreß«, das aus irgendwelchen Gründen später den prosaischen Namen »Zweites Staatliches Kino« erhielt, wurden die Salonfilme mit Asta Nielsen, Pola Negri und Olga Tschechowa gespielt. Wir mochten diese Filme nicht sonderlich, aber wir waren mit einem Kontrolleur des »Expreß« bekannt und gingen jeden Freitag hin.
Ich biege nun in die Nikolajewskaja ein. Das ist die europäischste aller Kiewer Straßen. Sorgfältig beschnittene, von Gattern umgebene Linden, große Laternen aus Milchglas an dicken, über die Straße gespannten Ketten. Schnittige »Lincolns« vor dem Hotel »Continental«. Vor dem Zirkus wartet eine Schar Jungen auf Jan Zigan, sie schließen Wetten ab über das heutige Treffen von Danilo Passunko mit der »Totenmaske«.
Dann weiter über die Olginskaja und die Institutsstraße mit dem aufgestockten Bankgebäude, mit vielleicht gotischen, vielleicht romanischen Türmchen an den Ecken. Die stillen schläfrigen »Lipki«, wo es sogar um die Mittagsstunde der heißen Julitage kühl ist, gemütliche
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