Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad

Stalingrad

Titel: Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Nekrassow
Vom Netzwerk:
wir nichts unternehmen können, es wird schon hell, aber in der Nacht wird man zum Spaten greifen müssen … In solchen Gräben kann man sich nicht lange halten.
    Karnauchow hat eine tiefe, etwas dumpfe Stimme. Er spricht ein wenig stockend. Vielleicht sucht er einfach nach Worten. Im ganzen gefällt er mir.
    Er ist vor ungefähr zehn Tagen zu uns gekommen, groß, ungelenk, mit dichten, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Augenbrauen, grauäugig, mit einem Sack über der Schulter. Mit Mühe hat er sich durch die enge, niedrige Tür gezwängt.
    Wir aßen gerade zu Mittag, Suppe aus getrockneten Kartoffeln und Zwiebäcke. Er dankte und bat um Wasser; trank mit Appetit eine eimergroße Tasse aus, trocknete sich die Lippen und lächelte.
    »Hab beinahe euern ganzen Vorrat ausgesoffen.« Dann fragte er, wo sich seine Kompanie befände. »Aber setzen Sie sich doch ein Weilchen, verschnaufen Sie erst mal.«
    Er lächelte wiederum, wie zur Entschuldigung, und wischte sich mit der Hand über die schweißige Stirn, die von der Mütze einen roten Streifen hatte.
    »Habe mich einen ganzen Monat im Lazarett verschnauft und sogar drei Kilo zugenommen. Nur Tabak hat man mir nicht mit auf den Weg gegeben. Und ohne Tabak – Sie wissen selbst, wie …«
    Ich gab ihm etwas zu rauchen. Er drehte sich eine Zigarre von unwahrscheinlichem Ausmaß und fing an, schweigend zu rauchen.
    Ich stellte ihm einige der üblichen Fragen, wie man es bei der ersten Bekanntschaft tut. Er antwortete ruhig, ohne viele Worte zu machen, und setzte sich in die Ecke auf seinen Sack. Dann stand er auf und suchte mit den Augen, wohin er den Stummel werfen könnte. Und da er einen passenden Aschenbecher nicht fand, warf er ihn hinter die Tür. »Nun, wer wird mich hinführen?«
    Am Abend bekam ich von ihm eine sorgfältige Meldung mit beigelegter Schußkarte eines jeden Maschinengewehrs und einer Skizze über die Verteilung der feindlichen Feuerstärke.
    Am folgenden Tag gewann er von den Deutschen einen Teil des Laufgrabens zurück, den wir tags zuvor verloren hatten, und büßte dabei nur einen Mann ein. Als ich am Abend zu ihm in seinen Unterstand gekrochen kam, der gar nicht frontmäßig ausschaute, sondern sauber, mit Spiegel und Rasierapparat, die Zahnbürste auf einem Wandbrettchen, saß er und schrieb etwas in ein Heft, das auf seinen Knien lag.
    »Ein Brief in die Heimat, was?«
    »Nein … bloß so … nichts von Belang …« Er wurde verwirrt und versuchte sich aufzurichten, den Kopf eingezogen, die Schultern gegen die Decke gestemmt. Das Heft steckte er eilig in die Tasche.
    Wahrscheinlich Gedichte, dachte ich und fragte nicht mehr.
    In derselben Nacht stahl er mit seiner Kompanie den Deutschen ein Maschinengewehr und sechs Kästen Munition. Die Soldaten sagten, daß er selbst das Maschinengewehr geholt hätte. Aber als ich ihn fragte, lächelte er nur, ohne mir in die Augen zu blicken, und meinte, das wäre bloß Gerede, denn er würde sich nie so etwas erlauben, und überhaupt gehe ein Kompaniechef nicht, um Maschinengewehre zu erbeuten.
    Er steht jetzt vor mir, leicht gebückt, unrasiert. Ich weiß, daß er – genau wie ich – jetzt am liebsten schlafen möchte. Aber er wird noch mit herausgestreckter Zungenspitze die Stellungsskizze zeichnen, oder er wird weglaufen, um zu kontrollieren, ob das Abendbrot gebracht worden ist.
    Farber, der Chef der fünften Kompanie, sitzt auf dem Rande eines Munitionskastens, müde, zerstreut wie immer, gleichgültig. Er starrt auf einen Punkt, und die dicken Gläser seiner Brille blitzen. Die Augen sind geschwollen vor Schlaflosigkeit. Die Wangen, ohnehin schon mager, sind noch mehr eingefallen.
    Ich kann bis zum heutigen Tage nicht klug aus ihm werden. Er erweckt den Eindruck, als ob ihn nichts auf der Welt interessiere. Hochaufgeschossen, gebückt, die rechte Schulter höher als die linke, krankhaft blaß wie die meisten Rothaarigen, furchtbar kurzsichtig, spricht er fast mit niemandem. Vor dem Kriege war er Aspirant der mathematischen Fakultät an der Moskauer Universität. Ich habe das aus dem Fragebogen erfahren. Selbst hat er es nie gesagt. Er spricht überhaupt über nichts.
    Ich habe einige Male versucht, mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen über Vergangenes, über die Gegenwart und über die Zukunft. Ich habe mich bemüht, ihn lebendig zu machen, ihn aufzuwecken durch irgendwelche Erinnerungen. Er hört schweigend und zerstreut zu, antwortet manchmal einsilbig, aber weiter kommt nichts dabei

Weitere Kostenlose Bücher