Stalingrad
Tage des Rückzuges, an die Scheunen, in denen wir uns trennten. Danach hat Schirjajew fast sein ganzes Bataillon verloren. Sie sind von den Deutschen bei Kantemirowka umzingelt und fast alle aufgerieben worden. Er selbst wäre beinahe in Gefangenschaft geraten. Dann ist er mit vier übriggebliebenen Soldaten nach Weschenskaja marschiert. Dort wären sie wieder beinahe den Deutschen in die Hände gefallen, konnten sich aber aus der Schlinge ziehen und über den Don entkommen. Hinter dem Don ist er in irgendeine Division geraten, die aus Überresten zerschlagener Divisionen zusammengestellt worden war. Hat bei Kalatsch gekämpft, war leicht verwundet und ist nach Stalingrad zur Frontreserve versetzt worden. Dort hat er etwa einen Monat gesteckt, und nun ist er zum Bataillonskommandeur in unserem Regiment ernannt worden.
Ich liege auf einer hölzernen Pritsche, die aus Brettern zusammengezimmert ist, und betrachte Schirjajew. Ich bemühe mich, in ihm eine, wenn auch nur kleine, Veränderung zu entdecken. Nein, er ist genau derselbe, sogar das blaue Dreieck des Sporthemdes guckt unter dem aufgeknöpften Kragen hervor.
»Hast du von Maximow nichts gehört?« frage ich.
»Nein … Mir hat jemand erzählt, ich weiß nicht mehr, wer, daß er ihn irgendwo auf dieser Seite des Don gesehen habe. Ist aber wenig glaubhaft. Ich bin die ganze Seite abgefahren, habe ihn aber nicht ein einziges Mal getroffen.«
»Wen hast du von den Unseren getroffen?«
»Von den Unseren?« Schirjajew kraust die Nase. »Einige von den Kompanieführern. Goglidse, den Chef der Aufklärung. Ist auf einem Auto vorbeigefahren, hat mit der Hand gewinkt. Nun, wen noch? Mädels aus dem Lazarett … Den Parteiorganisator Kostritschnyj … Ja!« Er schlägt mit der Handfläche auf den Tisch. »Auch deinen Freund, den Chemiker … wie heißt er doch?«
»Igor? Wo?« Ich richte mich sogar auf.
»Auf dieser Seite. Vor etwa fünf Tagen.«
»Du lügst!«
»Wieder ›du lügst‹! Auf dem ›Roten Oktober‹ ist er. In der Neununddreißigsten.«
»In der Neununddreißigsten?«
»Und nicht als Chemiker, sondern als Ingenieur, so wie du. Minenfelder, Sprengminen und ähnlicher Unfug.«
»Was hast du in der Neununddreißigsten gemacht?«
»Ach, gar nichts. Ist alles zufällig rausgekommen. Hab den Armeestab gesucht, und irgendein Dummkopf sagte mir, daß er sich in der Bannyj-Schlucht befände. Da bin ich hingegangen. Hast du eine Ahnung, was sich dort tut? Auf drei Schritt Entfernung ist nichts zu sehen. Rauch, Staub und weiß der Teufel was noch … Die Fritzen machten gerade einen Luftangriff. Ich – rein in den Graben. Später, als die Fritzen fortgeflogen waren, ergriff jemand meine Hand. Ich sehe – dein Igor. Hab ihn anfangs gar nicht erkannt. Der Schnurrbart wegrasiert. Ganz schwarz, verrußt. Hab ihn nur an den Augen erkannt.«
»Aber lebendig, gesund?«
»Lebendig, gesund. Hat natürlich nach dir gefragt. Aber was konnte ich sagen? Ich weiß nichts, und das ist alles. Haben wir bedauert, und abermals bedauert, und dann sagte er, er glaube, daß du in der Hundertvierundachtzigsten wärst. War nur bange, daß er vielleicht die Zahl verwechselt hätte. Aber ich habe mir’s dennoch aufgeschrieben. War fest entschlossen, zu dir zu gelangen. Stellen sind jetzt genügend frei in der Division – du weißt ja, wie viele. Habe mich im Armeestab in die Hundertvierundachtzigste gemeldet. Sie haben mich dort mit offenen Armen empfangen. Bei der Division erfuhr ich, in welchem Regiment du bist.«
»Ein Prachtkerl bist du, wirklich.«
»So ist es also herausgekommen.« Schirjajew streckt die Hand nach der Flasche aus. »Noch einen, was?«
Wir trinken jeder noch einen.
»Hast du Sedych gesehen?«
»Nein, hab ihn nicht gesehen. Hab auch vergessen, nach ihm zu fragen. Wir haben bloß etwa zehn Minuten miteinander gesprochen.«
»Sein Zigarettenetui bewahre ich heute noch auf. Er hat es mir zum Abschied geschenkt.«
Ich nehme aus der Tasche das Zelluloidetui.
»Ein gutes«, sagt Schirjajew.
»Ein gutes. Selbstgemacht. Im Traktorenwerk. Hast du eine Ahnung, wieviel Zelluloid dort war!«
»Gut gemacht. Wirklich selbstgemacht?«
»Gewiß.«
»Und wer hat das auf dem Deckel eingeritzt?«
»Ich. Das ist ein Monogramm. Ich habe es einfach mit dem Messer eingeritzt.«
»Gut! Hast du nur eins?«
»Ja. Meins habe ich verschenkt. Dieses ist von Sedych, als Andenken. Ein feiner Bursche war er.«
»Ja, das war er.«
Schirjajew schenkt noch einmal
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