Stalingrad
ein.
»Mir nicht mehr«, sage ich »mir dreht es schon im Kopf.«
Später kommt Abrossimow, der Stabschef des Regiments. Blaß, mit unzufriedenem Aussehen. Er sagt, daß der Divisionskommandeur ihn beinahe abgesetzt hätte dafür, daß er in der vergangenen Nacht, nicht in dieser, in der vorhergegangenen, den Angriff hintertrieben hatte. Aber was konnte er machen? Das Regiment sollte wieder neue Stellungen beziehen. Später ist der Befehl widerrufen worden.
Schirjajew und er gehen zur vordersten Stellung, Charlamow und ich machen die Unterlagen für die Übergabe des Bataillons fertig. Gegen zwölf Uhr kehrt Schirjajew zurück. Ich übergebe das Bataillon, und beim Mondaufgang begebe ich mich mit Walega ans Ufer. Karnauchow und Tschumak sind noch immer in der vordersten Stellung, so kann ich mich von ihnen nicht verabschieden.
Charlamow streckt mir die Hand hin.
»Wenn es Ihnen langweilig wird am Ufer, gucken Sie mal zu uns rein.« Und er schaut mich mit seinen guten armenischen Augen an.
Mir ist ein wenig traurig zumute. Ich habe mich schon an das Bataillon gewöhnt. Der Soldat am Eingang – er hat einen solch langen, komplizierten Namen, daß man ihn gar nicht behalten kann – grüßt sogar, indem er das Gewehr aus der rechten in die linke Hand wirft.
»Gehen Sie von uns fort, Genosse Bataillonskommandeur?«
»Ja.«
Er hustet und grüßt wieder, diesmal abschiednehmend.
»Kommen Sie wieder, vergessen Sie uns nicht!«
»Unbedingt, unbedingt«, sage ich und krieche mit Walegas Hilfe aus dem Laufgraben heraus. Der Soldat mit dem komplizierten Namen stützt mich zartfühlend von hinten.
16
Drei Tage tue ich nichts. Ich esse, schlafe, lese. Sonst nichts. Lissagors neuer Unterstand ist großartig. Ein Wunder der Tiefbaukunst. Ein sieben Meter langer Tunnel direkt in der Böschung. Am Ende rechts befindet sich ein Zimmer, ein richtiges Zimmer, nur ohne Fenster. Alles ist sorgfältig mit Brettern verkleidet, mit dünnen Brettern, die aneinander passen. Diele, Decke, zwei Betten mit einem Tischchen dazwischen. Über dem Tischchen ein ovaler Empirespiegel mit einem pausbackigen Amor. In der Ecke ein Primuskocher und ein Kanonenöfchen. Matratzen, Kissen, Decken. Was ist noch nötig? Gerade gegenüber hämmern noch immer die Pioniere, schon für sich.
»Wir werden wie die Götter leben«, sagt Lissagor. »Werden Pritschen in zwei Etagen bauen, eine Pyramide für Gewehre und Geräte, Tisch, Bank, Küchenecke. Im Korridor Lager für Explosivstoff. Weißt du, wieviel Erde über uns ist? Vierzehn Meter! Und alles Lehm. Hart wie Granit. Mit einem Wort, wir haben uns für lange eingerichtet.«
Mir gefällt das alles. Eine gute, schützende Unterkunft an der Front ist, wenn auch nicht die Hälfte, doch auf jeden Fall ein Viertel des Erfolges. Drei Tage lang genieße ich dieses Viertel.
Morgens füttert mich Walega mit einer Makkaronisuppe, so fett und dick, daß man kaum den Löffel umdrehen kann, dann mit Tee aus dem eigenen Samowar, der gemütlich in der Ecke summt. Das Kissen in den Rücken gestopft, löse ich Kreuzworträtsel aus alten Nummern des »Krasnoarmejez« und genieße die Lektüre der Moskauer Zeitungen.
Auf dem Erdball ist alles ruhig.
In Neuseeland ist ein neuer Jahrgang einberufen worden. An der ägyptischen Front rege Tätigkeit englischer Patrouillen. Wir haben diplomatische Beziehungen mit Kuba und Luxemburg aufgenommen. Die Luftwaffe der Alliierten hat kleinere Angriffe auf Laer, Buna auf Neuguinea und auf die Insel Tenor unternommen. Die Gefechte mit den Japanern im Abschnitt Owen-Stanley sind etwas intensiver geworden.
Auf Madagaskar bewegen sich die englischen Truppen auch irgendwohin, besetzen irgend etwas, kämpfen mit irgendwem, es ist nur schwer festzustellen, mit wem, und machen sogar Gefangene.
Im Großen Theater spielt man »Dubrowskij«, im Kleinen »Die Front« von Kornejtschuk, bei Nemirowitsch-Dantschenko »Die schöne Helena« …
Und hier, in einer Tiefe von vierzehn Metern, anderthalb Kilometer von der vordersten Stellung entfernt, von der jetzt die ganze Welt spricht, fühle ich mich so gemütlich, so ruhig wie im Hinterland. Gibt es denn wirklich noch ruhigere Orte? Beleuchtete Straßen, Straßenbahnen, Omnibusse, Hähne, aus denen Wasser fließt, wenn man sie aufdreht? Verwunderlich …
Ich liege, blicke zur Decke empor und stelle tiefgründige Betrachtungen an, darüber, daß in der Welt alles relativ ist, daß für mich im Augenblick das höchste Ideal dieser
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