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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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zurück. Fritz marschierte los.
    »Warte«, keuchte der Kleine, »ich kann nicht mehr.«
    Fritz schob Hans beiseite und setzte sich wieder an die Spitze. Hans fragte sich, wo er die Kraft hernahm, sich durch den teilweise hüfthohen Schnee zu kämpfen. Er hatte Mühe, sich in der Spur hinter ihm zu halten.
    Während er durch das Zwielicht taumelte, dachte er, dass sein eigener Mut und seine Kraft immer einen Vorgesetzten – ein Vorbild – benötigt hatten. Ohne diese Leitbilder, mochten sie noch so falsch und verlogen sein, war er hilflos. Hatte er nicht dem Hauptmann vor wenigen Stunden versprochen, dass der sich auf ihn verlassen könnte? Hatte es ihn nicht mit grimmigem Stolz erfüllt, zu Musks Legion der Unbesiegbaren zu gehören? Im Schnee vor seinen Stiefeln tauchten die Gesichter der Exekutionsopfer auf und er sah deutlich ihre grauen, eingefallenen, zahnlosen, zerschlagenen Züge.
    Wie ein kalter Nebel kroch in ihm die Gewissheit hoch, dass diese Welt, hatte sie einen erst einmal in ihren Klauen, niemals mehr losließ. Man war verloren. Stalingradgedanken. Auch für ihn war es zu spät, ebenso wie für Gross.
    Im nächsten Augenblick rutscht en sie eine steile Böschung hinunter. Sie hatten die Stabsbunker umgangen und befanden sich ein gutes Stück weiter hinten am Fuß der Schlucht. Der Boden war eben, glatt, der Wind fegte hoch über ihren Köpfen.
    Fritz grinste unter seiner Maske und klopfte Hans ermunternd auf die Schultern, und Hans dachte: Er hat recht, verdammt noch Mal, wir wollen doch leben! Und er folgte ihm weiter in die dunkle Schlucht, und jetzt war er froh, dass Fritz so schnell ging, denn jeder Schritt drängte die schwarzen Gedanken weiter zurück.
    Ein Stück weiter glaubten sie, dunkle Löcher in den Wänden der Schlucht auszumachen. Hans beachtete sie nicht, bis Fritz über die erste gefrorene Leiche stolperte. Eine Russin. Augenhöhlen und der geöffnete Mund waren mit Schnee gefüllt, die blanken Knochen ihrer Unterarme zeigten senkrecht in den Himmel.
    Die dunklen Flecken in den Wänden waren mit Lumpen verhängte Erdlöcher, in die sich Reste der Zivilbevölkerung geflüchtet hatten. Hans glaubte, hinter einem der Tücher eine Bewegung auszumachen. Schritt für Schritt, die Waffen im Anschlag, tasteten sie sich weiter durch Schnee, gefrorenen Matsch, erstarrte Körper.
    Vor ihnen zeichnete sich wieder die Silhouette einer Frau ab. Sie kniete neben einem toten Kind, das nackt im Schnee lag. Auch sie war erfroren.
    Hans ging auf ein mit dreckigen Decken verhängtes Erdloch zu. Fritz ging ihm nach. »Mach kein Scheiß«, flüsterte er.
    Mit dem Lauf seiner Waffe sch ob Hans die Decken beiseite. Dahinter stank es erbärmlich. Auf der Erde kauerten ein Mann, eine Frau und drei Kinder. Im ersten Moment dachte er, auch sie wären erfroren, dann aber hob der Mann unmerklich den Kopf.
    »Pitomnik – wo?«, fragte Hans.
    Die fünf stierten ihn apathisch an. Sie waren zu erschöpft, um Angst zu haben. Hans wiederholte die Frage.
    »Hunger«, flüsterte der Mann. »Bitte, Brot.«
    Hans holte ein kleines Stück Brot aus seinem Beutel und hielt es dem Russen hin. »Pitomnik?«
    Als er das Brot sah, glomm ein Funke in den Augen des Mannes auf. Er machte eine müde Handbewegung. »Weiter bis zwei Balkas. Gehen linke Balka, dann nach Süden. Gumrak. Bahnhof. Goncara. Geradeaus Flugplatz.«
    »Danke.« Hans gab dem Russen das Stück Brot und ließ die Decke zurück vor den Eingang fallen.
    Sie tasteten sich auf den Weg zurück. Nach wenigen Metern hörten sie hinter sich tapsende Schritte. Es war der Russe von eben. An der Hand hielt er ein Mädchen, das nicht älter als zwölf sein konnte. Fritz richtete die Waffe auf ihn, der Russe hob die Hände.
    »Bitte, noch Brot!« Seine Stimme war kaum zu verstehen. Er schob ihnen das Mädchen zu. »Sie meine Tochter haben.«
    Das war wohl einer der wenigen deutschen Sätze, die er auswendig gelernt hatte. Dazu nickte er eifrig und riss die Mundwinkel zu einem mechanischen Lächeln auseinander. »Gutes Mädchen! Jung! Schön!«
    »Was will er?«, fragte Fritz.
    »Er will uns seine Tochter für etwas Brot verkaufen.«
    Stumm betrachteten die drei Soldaten das ab gemagerte, in Lumpen gehüllte Mädchen. Ihre Schuhe bestanden aus zwei abgeschnittenen Autoreifen, die mit Katzenfellstreifen umwickelt waren. Ihre Augen waren bereits gestorben.
    »Scheiße!« Fritz tastete seine Taschen ab. »Ich hab noch ’n paar Hundekuchen.« Er steckte dem Mann ein paar Stück

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